Renate Solbach: Camera inversa
| Medeas Töchter 1/4
Sein Traumberuf. Der
›große‹ Edgar Alander. So sähe er sich gerne in den Gazetten. Und sein
Roman? Wie lange war das her...? Zehn Jahre. Die intensiven Gespräche,
die von ihrer Seite eher ein intensives Zuhören gewesen waren. Damals
war die Welt noch in Ordnung. Damals hieß er noch anders, jedenfalls
für sie. Er hatte sich ein Pseudonym zugelegt, da er mit dem Namen
seiner Kindheit, dem Namen, den ihm das Leben in Gestalt seiner Eltern
verliehen hatte, nur Demütigungen verband. Die Literatur sollte ihn zu
dem machen, der er zu sein wünschte. Der er war? Zehn Jahre, in denen
das Gehörte so manche Wandlung erfahren hatte in ihrer Einschätzung.
Zehn Jahre, in denen sie vergeblich seine Spuren zu entdecken suchte.
Allzu intensiv war die Suche jedoch nicht gewesen. Verbarg er sein Werk
vor den Augen der Welt? Vielleicht tat sie Edgar ja Unrecht und alles
wanderte in den großen Roman, von dem er unaufhörlich berichtet hatte
und dessen Fortschreiten er wort- und gestenreich zu beschreiben
wusste, ohne dass jemals eine Zeile ›ans Licht‹ oder aufs Papier
gelangt wäre. Nun ja, jedenfalls hatte sie nie etwas zu Gesicht
bekommen. Ihre Ohren hallten noch heute von den auf- und absteigenden
Präludien wider, den feinen Bögen und Linien, die sich über tausende
Seiten zu ziehen trachteten und eine Welt erbauten, die fester und
gegründeter schien als die, die sie beide umgab. Doch das Gebäude ließ
auf sich warten. Oder wartete ›er‹ noch immer? Gab es zu viele Fäden,
die ihn am Boden hielten, wie die Seile der Liliputaner den großen
Gulliver?