Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/5
Seine Reden machten einen glauben, es bedürfe nur einer einzigen konzentrierten Anstrengung, um die Seile für immer zu zerreißen, doch die ließ auf sich warten, aus Gründen, die sie eher ahnen als wissen konnte. Plante er ein Leben auf dem Papier, um die Banalität und Angepasstheit des gelebten Lebens zu überdecken? Eine grandiose Chimäre. Gab es den Künstler ohne Werk? Das unsichtbare Meisterwerk? Ehrlich gesagt, sie hatte es genossen, dass er sie zu seiner Vertrauten machte. Damals schienen sie unzertrennlich.

Ach, wäre das Schiff auf dem Weg ins Kolcherland
doch nie an den dunklen Felsen vorbeigesegelt,
die den Weg ins Schwarze Meer bewachen.
Wäre in den waldigen Bergen Thessaliens
nie der Fichtenstamm gefällt worden,
der zum Steuer wurde für das Schiff Argo,
mit dem die auserwählten Helden...

Das Goldene Vlies. Lange Zeit verkörperte es für sie so etwas wie das Geheimnis schlechthin. Das bestgehütete Geheimnis der Kolcher. Ein Geheimnis, das alle kannten, ohne Genaueres zu wissen. Kein Einzelfall. Das Fell eines Widders, der fliegen und sprechen konnte. Sein Besitz verlieh ewige Jugend. Das Nicht-Altern. Merkwürdig, dieses Gewand. Irgendwie modernisiert und gelüftet. Genau wie der Text.
   © Acta litterarum 2011