Renate Solbach: Camera inversa
| Medeas Töchter 1/6
Dennoch:
Ammenweisheiten, Ammenbesorgnisse! Sie hatte es für Liebe gehalten.
»Die Götter haben uns zusammengeführt! Wir sind füreinander bestimmt.«
Was bedeutete das? Die absonderlichen Ziele der Götter, fanden sie in
einem Herzen Platz? War das Herz überhaupt der rechte Ort? Wieso zog
dies mythisch verbrämte Reden die Menschen – Frauen in besonderer Weise
– immer wieder in seinen Bann? »Wir sind füreinander bestimmt.
Gemeinsam können wir etwas bewirken.« Sie hatte über diese Worte
gelacht, ihnen misstraut, hatte sie begierig aufgesogen und sich von
ihrer bannenden Kraft leiten lassen. War es nicht haargenau das, was
sie wollte? Es verlieh ihrer Beziehung etwas Unausweichliches. Ihr
Vater hatte schon damals klarer gesehen. Mädchen, sei klug und beende deine Ausbildung.
Seine Ratschläge hatten sie mehr in die Sache hineingetrieben, als dass
sie sie vor den wohl unvermeidlichen Fehlern bewahrt hätten. – Wann
hatte das eigentlich angefangen, dass sie ihn auch bei sich nur noch
Edgar nannte? Jedenfalls, die mythische Grundierung konzentrierte alle
Kräfte auf einen Punkt. Eine wohltuende Wirkung, die zwei Ziele
vereinte: Die Freiheit von ihrem Leben als Tochter, das unerträglich
geworden war, und die ›Erlangung einer Aufgabe‹. Herausforderung und
Glaube – den man, falls er sich als falsch erweisen sollte, wie ein
staunend gelesenes Horoskop beiseite schieben konnte.