Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 8/12
Was Claire auf den Buchseiten dieser französischen Intellektuellen-Ikone entgegenschlug – aber, psst, dies laut zu sagen oder gar hinzuschreiben, käme schon wieder einer Tabuverletzung gleich – war der nicht durchdachte Groll einer Tochter aus gutem Hause, die vielleicht lieber ein Mann geworden wäre, auf das Weibliche und die Hausarbeit – war Ressentiment. Selbstentfremdung: Sieg der Vernunft über den Wunsch: »Der Friede, mit solchen Opfern erkauft, war mir zu teuer, und ich konnte den Gedanken nicht mehr ertragen, mich teilweise zu vernichten, um mich teilweise besser erhalten zu können.« Der weibliche Körper als Ursache der Entfremdung. Welcher Körper eigentlich? Der von einer vermeintlichen Natur ›gegebene‹ oder die mit ihm verbundenen Bilder und Vorstellungen, die ebenso wechselten wie die Moden und Rollen? Im Zeitalter des Körperkultes eine fühlbare Größe. Für eine Person, die sich als Intellektuelle verstand, war das Fehlen jedes historischen Verständnisses für dieses Gewordensein auffällig. Die revolutionäre Erkenntnis, dass eine Frau nicht geboren, sondern ›gemacht‹ werde, hinausposaunend, erlaubte sie sich, unwidersprochen andere Sachverhalte oder Begriffe, für die dasselbe galt, als feststehende Größen oder Existenzialien anzusehen, damit die Analyse stimmig wurde und der Vorwurf Ewigkeitscharakter erhielt. Als zwischen der Welt des Vaters und der Welt der Mutter gefangen, so erklärt sich die 50-jährige Beauvoir 1958, nicht ganz zehn Jahre nach dem Erscheinen von Das andere Geschlecht, in ihrem ersten Band der Memoiren nachträglich die Genese ihre Werdens als intellektuelle Frau. Ein wirklicher Fortschritt für die Frauenbewegung und eine Bestätigung des männlichen Vorurteils über die Bereitschaft der Frauen zur fundamentalen Klagehaltung in Form undifferenzierter All- und Immersätze. (Frau Bovary lässt grüßen!)
   © Acta litterarum 2009