Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 16/2
–: »Deine Worte wärmen das Herz und klingen den Ohren wohl vertraut. Sie sind mir näher, als vieles, was ich von Zeitgenossen vernommen. Der Vogel wählt nicht nach Ort und Zeit, noch nach Ansehen und Verdienst. Er ist scheu und stolz. Zu oft schon hat man versucht, ihm die Flügel zu stutzen. Seine Zeit ist das Immerschon, seine Landschaft erblüht in der Sonne, die Seele heißt und er wohnt im Wort.

–: »Ich weiß, deshalb werde ich auch nicht nach Griechenland reisen.«

–: »Der Mythos existiert in dir oder er existiert nicht. Zu viele kleben an abgelebten Worten, die sie drehen und deuten, bis der Sinn - wohin gewendet? - erscheint. Kein Text ist beim zweiten Mal derselbe. Aus dem Vergessen ersteht er neu. Ich habe die Kladde ins Meer geworfen. Die Spur meiner Füße haftete unter den Sohlen. Der Versuch, alles aufzuschreiben, musste misslingen, da die Gewissheit fehlte. Der Text verschwand, noch ehe er fertig war.«

–: »Kein Gedanke, der je in der Welt war, geht letztlich verloren. Scheint er auch mit dem Tod des Denkenden zu schwinden. Für diesen ist es, als verlösche mit ihm die Welt. Die Angst spurlos zu bleiben, das Bestreben ein wahres Bild des Lebens zu hinterlassen, nimmt dem Schreiben die Unschuld, macht es zum Spiel der Eitelkeiten.«
   © Acta litterarum 2009