Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 16/3
–: »Wahr gesprochen, meine Liebe! Zu spät kam mir diese Erkenntnis. Zuerst sah ich mich reich gesegnet. Trotz der Mahnungen – Scribe, Sibilla! –, die mich erreichten. Ich schob es immer weiter hinaus. Wir leben, als sei unser Leben unendlich. Gewähren dem Aufschub bleibenden Raum. Das Buch des Lebens hielt ich für mein eigenes. Und dann der Umschwung. So tief wirkten die Verletzungen, dass ich glaubte, sie nur schreibend richtig stellen zu können. Doch wen verletzt das Leben nicht? Das darf nicht der Beweggrund sein. Oder glaubst du, irgendein Leser setzt dich ins Recht? Oder ein Kritiker gar? Neben der Neugier war das Leiden an den Verhältnissen immer schon Motor des Denkens und Anlass des Schreibens. Doch das muss man gut auseinander halten.

–: »Ja, die Jahre gehen dahin. Eingesponnen in fremde Texte, zieht das Leben vorbei. Doch wozu dem Kosmos der Texte noch einen einverleiben? Nur, für den Dichter, mit der unsterblichen Aufgabe betraut, macht es Sinn.«

–: »Was man ist, wer man war, weiß man erst am Ende. Wenigen nur ist die Einsicht früher gegeben. Sie leiden unermesslich daran. Frag nicht so viel! Vollende, was ich versäumte und mühe dich nicht um den Sinn. Versuche nicht zu ergründen, wie die Welt dazu steht. Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Vernunft der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn, und doch darf man sie nicht eigentlich zart und lebensunbeständig nennen, da man sonst auch einen Elefanten zu zart nennen müsste, um in einem luftleeren, seinen Lebensbedürfnissen nicht entsprechenden Raum auszudauern. Rätselhaft ist die Beziehung zwischen zwei Menschen. Rätselhaft ist das Leben des Geistes. Das Rätsel ist uns aufgegeben. Du fragst von wem und wozu? Von uns selbst natürlich. Ein Grund mehr, das Leben in seinen Dienst zu stellen. Amor intellectualis. Um das ›Wozu‹ kümmere dich nicht. Es stellt sich ein. Oder auch nicht.
   © Acta litterarum 2009