Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 17/2
(Heutzutage würde man sie wohl eher einem strahlensicheren  Atombunker anvertrauen.) Wie Kinder, die man los- und ihr Leben leben lassen muss, ist die Notwendigkeit der Pflege und Fürsorge erst vorbei. Ein jedes zu seiner Zeit. Redlichkeit und Klarheit und – wie hatte er so treffend geäußert – immer einen Schritt vor den anderen setzen, und sehen wie weit man kommt, das war ›alles‹. Es verlangte mehr, als man sich zuzeiten eingestand. Wie weit war Kassandra gekommen? Ob der Unglaube der Zeitgenossen ihr Denken infiziert hatte? Wohl eher hatte er sie – in gewisser Hinsicht – in die ›Freiheit‹ entlassen. Ihre Darstellungen in der Literatur jedenfalls nahmen sich jede Freiheit heraus. Bisweilen erschien sie als tollwütige Füchsin mit Schaum vor dem Mund. Die Sichtweise entschied über die Deutung: von der heiligen Krankheit bis zum pathologischen Fall – je nachdem wie oder wo der Zeitgeist wehte, wenn es so etwas gab, es sich dabei nicht nur um den kleinsten gemeinsamen Nenner von Karrieristen und Eiferern handelte – schien jede zugelassen, war dem Behandelnden nur die ›Approbation‹ durch die Institutionen zugesprochen. (Auf eigene Kosten kam es teuer zu stehen.)
Hannah spürte, wie sich über lange Jahre gespeicherte Wut und Erbitterung lösten. Ein kleiner Stein, der, zur Unzeit losgetreten, eine tödliche Lawine ins Rollen bringen könnte. Heute fühlte sie sich eher gelassen und befreit. Hannahs Hand umschmeichelte den grünen Stein. Ein Geburtstagsgeschenk. Aventurin. Ruhe und Zuversicht sollte er schenken. Die Tochter glaubte an die Heilkraft der Steine. Zuversicht konnte sie brauchen für ihre Projekte. Ob es half?
   © Acta litterarum 2009