Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 17/3
Mit ähnlichen
Empfindungen musste Sisyphos am Fuße des Bergsees gesessen sein, an dem
sie ihm in ihren Tagträumen begegnet war. Kennengelernt hatte sie ihn
im jugendlichen Alter von siebzehn Jahren. Nicht als Menschen aus
Fleisch und Blut, Sehnen und Knochen, eingehüllt in den Schweiß der
Anstrengung, den Angstschweiß vor dem Versagen der Kräfte, davor, vom
zurückdrängenden Stein überrollt zu werden. Als Textgestalt begegnete
er ihr. In der Ausprägung, die Camus ihm in seinem Mythos zukommen ließ. Mit anderen Worten, sie lernte ihn – durch die Augen des Philosophen – als einen glücklichen Menschen kennen.
Der
Stein, als endlose Strafe über ihn verhängt, lag flach und glatt in
seiner Hand. Der ständige Abrieb, den das jahrtausendelange
Hinaufwälzen und Herunterrollen bewirkt hatten – die Strafe war ihm
auferlegt vor Erfindung der Physik – hatte ihn derart schrumpfen
lassen. Entgegen der Vorstellung, das Ende der Strafe müsse ihn
glücklich machen, ihn befreien, hatte es eine neue Schwierigkeit
heraufbeschworen. Das war Menschenlos. Die Ewigkeit war unerreichbar,
selbst als Strafe. Selbst in der Form des Leides musste das
›Große‹ der Banalität weichen, wurde im Alltag zerrieben, gab es nicht
eine Gegenbewegung im Inneren. Was sollte Sisyphos nun anfangen mit dem
Stein? Den großen Wurf wagen? Wieviele vor ihm hatten davon geträumt.
Aber wie? Wohin? Sisyphos war wirklich nicht zu beneiden, ebenso wenig
wie Kassandra. Konnte man diesen Vergleich wagen? Todesursache
Glück, verrückter, sehr junger Wunsch, vorhanden, solange Glück etwas
Konkretes ist, fassbar wie Typhus und Lungenentzündung. Das ändert sich
bald, nur noch Unglück weckt Todessehnsucht, die, je mehr es dem Ende
zutreibt, immer abstrakter wird, konturenlos und entrückt, so schwach
wie die Lust am Leben.