Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 18/1
18
Flugtraum. Die erblätterte Welt ist die zerlesene.
Schicht um Schicht lösen sich die Gesichter, ein jedes eng verknüpft
mit den Gedanken, die durch ihn hindurch gewandert sind, an diesen
Nachmittagen in ihren Armen. Verschwimmende Gesichter. Was blieb, wenn
das letzte entschwunden war? Er stirbt auch in mir langsam. Bald wird
die Erinnerung zu Staub zerfallen sein. Das sich Ablösende als das
Bleibende. Sie scheinen nur da zu sein, um durch ängstliche Rücksichten den Flug unseres Wesens niederzuhalten.
Die Einheit des Ortes, der Handlung und der Zeit sind dem Theater
geschuldet. In der ›Wirklichkeit‹ geht es nicht so (milde) zu. Und doch
ist die Literatur komplizierter als das Leben. Spät hab ich dich geliebt, du Schönheit, ewig alt und ewig neu, spät hab ich dich geliebt.
Längere
Zeit nach dem Fest und etwa eine Woche nach jenem denkwürdigen Abend,
an dem Misbe sich um ihre Herrin und Freundin sorgte, erschien
Agamemnon nicht zur gewohnten Stunde. Kassandra war beunruhigt. Sie
hätte ihn warnen sollen, doch was hätte es genützt? Gelacht hätte er,
sein warmes, tiefes, männliches Lachen. Angst schnürte ihr das Herz
zusammen, rote Kreise tanzten vor ihren Augen einen hämischen Tanz. Sie
warf sich den Umhang über, der ihre Haare – die flammenden Boten –
verbergen und sie vor aufdringlichen Blicken schützen sollte, und eilte
zum Palast. Wie nicht anders erwartet, fand sie Türen und Fenster
offen, niemand war zu sehen. Plötzlich wichen Angst und Unruhe von ihr.
Mit traumwandlerischer Sicherheit bewegte sie sich im Palast. Sie
betrat das Bad, aus dem sie eben noch ein leises Röcheln zu vernehmen
glaubte. Da lag er, hingestreckt in seinem eigenen Blut. Erschlagen.
Erschlagen von Klytämnestra, seiner Frau.