Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 18/2
Später konnte sie nicht mehr sagen, wie viele Stunden sie so gesessen und mit ihm – einem Toten – Zwiesprache gehalten hatte. Oder war sie ihren Gedanken nachgehangen, hatte versucht, die Zeit durch lebhafte Versenkung zurückzuholen, sie festzuhalten für die allein zu bewältigende Zukunft? Das Blut, sein Blut, zu Beginn noch warm, war inzwischen geronnen und hatte auf ihrem Kleid dunkle, fast braune Flecken hinterlassen. Sie trug – ein bemerkenswerter Zufall, wenn es denn einer war – dasselbe Kleid, wie bei ihrer Ankunft in Agamemnons Heimat. Die Botschaft der Kleider. Ein Faktum, das später als weiteres Indiz dafür genommen werden konnte, dass sie beide – Agamemnon und Kassandra – direkt nach ihrer Ankunft von Klytaimnestra in täuschender Abicht freundlich empfangen und dann im Bade erschlagen worden waren.
Kassandra saß, als wolle sie den Malern und Bildhauern der fernen Zukunft Modell sein für deren Pietàdarstellungen. Nur wäre es dann nicht mehr der Geliebte, sondern der ›geliebte‹ Sohn. Der Sohn Marias, so unvermutet und unverständlich gegeben wie genommen. Die Wolken zogen nicht länger an dem von der hängenden Sichel erhellten Himmel umher, sondern hatten sich zu einem schwarzen Ballen zusammengeklumpt, der von oben herabdrohte. Die tiefen Schatten in den Augenwinkeln und um das Kinn, die das letzte der Gesichter verdunkelten, denen Kassandra in ihrer langen Sitzung begegnete, tauchten ein in die immense Schwärze, die der dräuende Wolkenballen auf das Antlitz des Toten warf.
   © Acta litterarum 2009