Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 18/3
Einzig die kleine Falte, die links über der Nasenwurzel unvermutet einsetzte und sich in den rechten Augenwinkel hinüberzog, diese Falte, die stets seine Erzählungen konturiert und sich durch die Anstrengung der Gedanken immer mehr vertieft hatte, stach hervor. Der Tod hatte sie eingemeißelt. Das Licht der Mondsichel schnitt sie wie ein Bühnenspot scharf aus der umgebenden Schwärze heraus und lenkte Kassandras Erinnerungen. Bündelte sie in seinem Strahlen. »Sei versichert, meine Liebe, niemand kann uns unsere Gespräche nehmen, was auch geschehen wird. Dieser Grad an Einvernehmen und Verstehen, der das Unausgesprochene ebenso umschließt wie das Unausprechliche, ist etwas sehr Kostbares und Seltenes.« Agamemnons Worte. Die Worte eines Gestern, das unaufhaltsam im Abgrund der Zeit verschwinden würde, erzeugten einen Halleffekt in Kassandras Kopf. Dumpf und grollend umschwirrten sie die Grenzen des Hohlraums, den sein Tod erzeugte. Nun gab es nur noch eine Aufgabe. Sie war entschlossen ihm zu folgen. Der Wille zu sterben kann töten, wenn er nur stark genug ist. Dieser Satz nistete sich ein und begann eine wohltuende Wirkung auszuüben. Sie hatte gewusst, dass sie sterben würde. Kassandra war kein fühlloses Instrument der Prophetie, sie musste erleiden, was sie sah. So war sie fest entschlossen, den Tod in die ›eigene Hand‹ zu nehmen. Nicht durch physische Gewalt, sondern einzig durch die Kraft der Gedanken. Sie wollte dieses Geschäft nicht ihrer Feindin überlassen. Klytämnestra musste eine Ahnung von Kassandras Kraft bekommen haben. Auf dem Fest waren verräterische Worte ihrem Munde entschlüpft.
   © Acta litterarum 2009