Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 18/4
Mir ist als blicke sie in meiner Seele
geheimste Tiefen. Seherin! – was starrst du mich an?

Mit den – wie man zu sagen pflegt – ›sterblichen Überresten‹ könnte Klytämnestra verfahren, wie es ihr beliebte. Der Geist aber war entronnen. Kein falsches durch einen gewaltsamen Tod erzeugtes Bild sollte ihn trüben. Fest nur blieb Kassandra das Herz und hell die Gedanken. Eine Stunde war ihr noch vergönnt, dann würden die anderen, die andere, zurückkehren, um ihr Werk zu vollenden.  Die Widersacherin sollte sie nicht lebend antreffen. Kassandra nahm ihren Umhang ab und breitete ihn über den toten Geliebten. Seine Scham zu bedecken... Sie musste Spuren legen und beseitigen. Die Vollendung der Vergeblichkeit des Tuns, der große Wurf. Andere würden ihr grausames Werk an ihnen verrichten, doch das war unerheblich. In dieser Stunde begriff sie, dass der Versuch, kurz vor dem Ende alles wahrheitsgemäß festzuhalten, fehlschlagen musste. Man lebt nicht in der Wahrheit, sondern mit ihr. Sie hatte zu lange gewartet. Die Schrift wandelt das Gesagte. Sie entzieht es den Absichten, hält es fest und gibt es frei. Jeder nahm seine Wahrheit mit in den Tod und so fehlte ihr immer ein Stück. Die Wahrheit war löchrig. Kein anderer konnte die Löcher stopfen, keine Rekonstruktion, kein Nachdenken das fehlende Stück einfügen. Immer blitzte hier oder da gähnende Dunkelheit auf. Dieser Sog, der die vielen schon zu Lebzeiten erreichte und ihr Tun entwertete, selbst wenn sie in einem ›weltlichen‹ Sinn Erfolg haben mochten. Kassandras ›Text‹ würde untergehen und weiterleben solange es jemanden gab, dem die Dunkelheit sprechend war. In ihr nistete die Wahrheit. Die Sonne, das Licht brachte das Wissen.
   © Acta litterarum 2009