Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 18/5
Doch dies war nur ein Teil der Wahrheit, ein ›wesentlicher‹ allerdings. Schreiben im Dunkeln. Lesen im Licht. Ein Teil, der seine eigenen Beschwernisse produzierte und nicht immer in bestem Ansehen stand. Denn wenn du auch auf die Ehrliebe der Menschen sehen willst: so müsstest du dich ja über die Unvernunft wundern in dem, was ich schon angeführt, wenn du nicht bedenkst, einen wie gewaltigen Trieb sie haben, berühmt zu werden und einen unsterblichen Namen auf ewige Zeiten sich zu erwerben. Und für diesen sind sie bereit, die größten Gefahren zu bestehen, noch mehr als für ihre Kinder, und ihr Vermögen aufzuwenden und jedwede Mühe unverdrossen zu übernehmen und dafür zu sterben.
Kassandra wickelte den Umhang fester um Agamemnons Körper. Ein letzter Liebesdienst. Man entblößt nicht, die man liebt, denn lieben heißt sehen. Sehen ohne Scham aber ist schamlos.
Eine Stunde noch. Ihr Geist machte sich auf die Reise. Eine lange Reise würde es werden, da ihr Name nicht so schnell verlöschen sollte in den Köpfen der Menschen und in ihren Schriften. Eine beschwerliche Reise dazu, denn sorgsam musste sie die Orte prüfen, die Herzen der Menschen, in denen sie sich gefahrlos niederlassen konnte. Eine große Müdigkeit überkam Kassandra und sie schloss die Augen. Im Hinübergleiten entglitt ihr der Körper Agamemnons und so fanden Klytämnestra und ihre Helfershelfer bei ihrer Rückkehr zwei Leichname vor, deren Stellung zueinander jede beliebige Deutung offen ließ.
   © Acta litterarum 2009