Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 20/1
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Einen
direkten Zugang gab es indes nicht. Angefangen hatte es damit, dass sie
sich einem Rat ihres alten Lehrers folgend einfach an ihr Notebook
gesetzt hatte. Es sollte eine Erkundung sein in Form einer Recherche,
kein Selbstfindungstext wie der Hermeneut – wer dieser war und wie es
dazu kam, das war ein eigenes Kapitel – ihr nahelegen wollte. Es gab
ein sicheres Indiz dafür, und das war neben den eingestreuten
Reflexionen die Form. Ganz unwillkürlich entstand dieser Text in der
dritten Person. Der »Anatomie« des
eigenen Ichs folgt fast dialektisch die Selbstbeobachtung in der
Weltbeobachtung. Das Ich wird erweitert durch seinen Bezug zur Welt,
das intime persönliche Journal ebenfalls durch das Journal littéraire
oder das Reisetagebuch. Sie wollte nicht noch einmal den ganzen
Prozess darlegen, aber bedeutsam war der Moment, in dem ihr klar
geworden war, dass die Person, über die sie schrieb – und zu diesem
Zeitpunkt war schon nicht mehr so ganz klar, ob es dabei nur um sie
selbst ging – einen Namen haben müsste. Und so nannte die Erzählerin
ihre Person Nora. (Welcher Autor gab seinen Personen schon den eigenen
Namen? Das vermied man nicht nur um Ähnlichkeiten mit lebenden Personen
auszuschließen, sondern auch, damit die Unterscheidung zwischen Autor
und Erzähler nicht noch schwieriger wurde. Und natürlich aus
Zartgefühl!) Es geschah, wie es beim Schreiben sein sollte, spontan und
unwillkürlich, schließlich wollte man den Ansprüchen an Authentizität
und Glaubhaftigkeit Genüge leisten. Abgesehen von dem Zusammentreffen
mit Kassandra ereignete sich etwas höchst Eigenartiges. Die Erzählerin
wurde in einem gewissen Sinne Nora (wenn sie es nicht schon gewesen
war). Der Rest erwies sich als das Immergleiche. Schreibkrisen,
Konstruktionsprobleme, Verhedderung und Lösung.