Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 19/6
Spätestens an dieser
Stelle musste es für einen Leser heillos werden, heillos verworren. Wer
sollte da noch folgen, der die Entwicklung – spiegelte der Text sie
wider? – nicht miterlebt hatte. Es ging um die Identität (oder war es
die Individualität?) Noras. Schreibend und denkend – das war Nora
besonders wichtig, denn im Leben hielt sie es genauso. »Du verhälst
dich wie eine Schauspielerin, verlierst deine Unmittelbarkeit.« Alles
erschien in einem anderen Licht, da es sich um einen Akt der
Distanznahme zur eigenen Person handelte. Schreibend und denkend setzte
man die Figuren des inneren Personals aus sich heraus, um sie
reflektierend einzuholen. Zusammen mit dem Entwicklungsprozess, den
dieses ›Aus-sich-heraus-setzen‹ in Hinsicht auf die Figuren erzeugte
und damit natürlich auch bezüglich der Entwicklung oder Ausformung der
Psyche. Auf diesem Wege gewann man schreibend Erkenntnis. Die Sache
musste noch einmal – oder vielleicht erst einmal – aufgerollt und
kenntlich gemacht werden. Das bedeutete neu einzusetzen. Und in diesem
Moment setzte auch Noras innere Ruhe wieder ein. Es galt lediglich
fortzufahren und im Fortfahren neu zu beginnen, alles zum Verständnis
Notwendige zu Papier bringen. Die Zeit und die mit ihr einhergehenden
Überlegungen würden die nötige Klarheit schaffen. Noras Gestalt
straffte sich und leichten Herzens und mit federndem Schritt setzte sie
ihren Spaziergang fort, ließ sich, wie man so schön sagt, den Wind um
die Nase wehen und sog den herbstlichen Duft der Bäume ein.
Merkwürdigerweise
begann an dieser Stelle ein anderer (vielleicht doch damit
zusammenhängender) Strang von Überlegungen in ihr Raum zu beanspruchen.
Nicht, dass er nicht schon früher hier oder da aufgetaucht wäre oder
sich im Text niedergelassen hätte. Aber eher chimärisch und
anflugsweise. Nun aber schien es nötig, ihm den gebührenden Platz
einzuräumen. Es handelte sich um Überlegungen zu der Frage: Wofür oder für wen schreibe ich?