Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 19/5
Mythen sind gefährlich, wenn sie nicht im eigenen Leben verflüssigt, belebt und anverwandelt werden. Schematisch angewendet – und dafür gab es im hermetisch konstruierten Instrumentarium der Psychoanalyse genügend Beispiele – werden sie selbst zum Schematismus, offenbaren ihren Zwangscharakter. Die Formelhaftigkeit psychoanalytischer Protokolle spiegelte das Problem auf unangenehm erhellende Weise wider. Mir ist zumute wie einem, der Sie an Ihre Kindheit erinnern soll. Nein, nicht nur an Ihre: an alles, was je Kindheit war. Denn es gilt, Erinnerungen in Ihnen aufzuwecken, die nicht die Ihren sind, die älter sind als Sie; Beziehungen sind wiederherzustellen und Zusammenhänge zu erneuern, die weit vor Ihnen liegen.
Sie hatte sich zu sehr auf diese Person, wie sie ihr entgegengetreten war, diese Kassandra, eingelassen. Deutungshoheit hatte sie ihr verliehen über Leben und Schreiben, diesen wirkmächtigen Wechselvorgang, indem sie sie zum Nukleus ihrer eigenen Geschichte gemacht hatte. Es galt also nicht, wie die Konstruktion des Textes zu gebieten schien, die Agamemnonepisode im Kontext des eigenen Lebens noch einmal zu erzählen. Die Perspektive unter der sie Andreas, Hannahs Mann ohne Eigenschaften, eingeführt hatte, war die des durch Kassandra gegangenen Blicks. Die Erzählerin, nein, Nora schüttelte den Kopf, um sich anschließend mit der für sie typischen Gebärde durch die Haare zu fahren. Als wolle sie die Form ihres Schädels mit der Hand erkunden.
   © Acta litterarum 2009