Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 19/4
Die Blätter flogen umher und legten sich auf dem Boden in einer anderen Ordnung wieder zusammen. Allerdings ein wenig kreuz und quer. Doch das störte Nora im Moment herzlich wenig. Sie warf sich ihre Jacke über und stürmte nach draußen. Es war an der Zeit, die Gedanken zu ordnen. Ein Spaziergang im herbstlichen Park würde ihr dabei zu Hilfe kommen. Der kühle, scharfe Wind, der heute den ganzen Tag blies, wirbelte die Blätter durcheinander, den Kopf machte er frei. Wie war die Situation überhaupt entstanden? Habe ich den Menschen um mich herum, unbeugsam die Wahrheit sagend, Verletzungen heimgezahlt, die sie mir beigebracht? Das war der Schlüsselsatz, war Noras ungelöste Frage und mit ihr kam diese Person, Kassandra, ins Spiel. Dabei handelte es sich nicht um irgendeine Frage. Es war die Wahrheitsfrage und vielleicht sowohl der Schlüssel zu einem Lebensproblem wie auch zum Grunde ihres Schreibens. Der Schlüssel zur Aushebelung und Fruchtbarmachung des Tabus. Die Verstrickung in den Mythos. Nora hatte Kassandras Erscheinen auf der einen Seite als Befreiung erfahren, auf der anderen als Besitzergreifung. Das war die Gefährlichkeit der Mythen. Mythen sind geronnene Erfahrung, gedeutete Welt in einem Kulturkreis. Sie spiegeln die Lebenswelt und die psychische Welt in einem archaischen Sinn, sie sind fundamental. Sicher war es kein Zufall, dass sich die Psychoanalyse ihrer Muster bediente, die allerdings – und da lag die große Gefahr – zusammengeschlossen waren (oder besser eingegossen wie in eine Hohlform) mit einem Modell, das zur Zeit ihrer Entstehung in den Köpfen der Menschen spukte, da es den landläufigen Stand der Technik repräsentierte: dem Modell der Dampfmaschine.
   © Acta litterarum 2009