Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 19/3
In Hannahs Kopf setzte ein Summen und Schwirren ein, das der Rückkehr des Bienenschwarms in den heimatlichen Stock zum Verwechseln ähnelte. So konnte die Erzählerin ruhig bleiben. Nichts einfacher als das. Ein Mausklick und sämtliche Hannahs wurden durch Nora ersetzt. (Mit Kassandra war die Sache ein wenig komplizierter. Darüber musste sie nachdenken.) Hannah erschrak. Dann würde der Text unkenntlich. Die Entwicklung wäre nicht mehr nachzuvollziehen. Eine solche Operation war bereits einmal vonstatten gegangen, mit den bekannten Folgen, die an dieser Stelle auftraten. Schließlich hatte es seinen guten Grund gehabt, dass aus Nora Hannah wurde. Diese elenden Hermeneuten, als ob der Name etwas zur Sache hinzufügte oder gar in der Lage war, sie auszudeuten? Oder hatten sie doch ein bisschen Recht? Vielleicht gab es so etwas wie eine ›self fulfilling prophecy‹, wenn man einen Namen annahm, unhinterfragt. Der Bann der Namen. Der Hermeneut schien den Kopf zu wiegen, bedenklich wie es aussah. In der Hand hielt er einen Stein, den er unentwegt rieb. War der Hermeneut ein Magier? Kam seine Kraft aus dem Stein? Den Stein musste man werfen, nicht reiben, sonst entzündete man ein Feuer. Der große Wurf. Die Entscheidung für die Vollendung der Vergeblichkeit. Waren das nicht Kassandras Gedanken oder war es doch Hannah? Nun wurde die Erzählerin ärgerlich und schaltete ihr Notebook aus, sie wollte Hannah den Saft abdrehen. Ihr ging es um klare und konzise Gedanken und nun all diese Verwirrungen. War es möglich mitten im Text den Namen zu ändern oder besser den eigenen Namen wieder einzutragen? Warum war das überhaupt geschehen? Die Erzählerin, also Nora, fuhr mit einer ärgerlichen Handbewegung in den Stapel des bereits ausgedruckten Manuskripts und fegte ihn vom Tisch. (Aber wer erzählte nun diese Begebenheit? Hannah grinste, innerlich natürlich. Das war das Resultat, wenn man die Personen nicht klar auseinanderhielt. Heillose Verwirrung!)
   © Acta litterarum 2009