Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 19/2
Der Fehler lag in der Konstruktion. Es gab keine Agamemnongeschichte in Hannahs Leben. Der Mann ohne Eigenschaften war nicht Agamemnon. Klytaimnestra war Penthesilea. Wer sollte das verstehen? Wer aber war Hannah? War Hannah Kassandra? Das bisschen ›Hellsichtigkeit‹ formt noch keine Person. Der Motor ist angesprungen. Hieß Hannah nicht eigentlich Nora? Wieso die Namensvertauschung? Der Mann ohne Eigenschaften fordert die Beschriftung. Aber fordert ein Mann ohne Eigenschaften? Wer war er? Der ungedeutete Mann? Der, der nicht deutet? Der, der analysiert? Scribe, Sibilla! Doch der Mann ohne Eigenschaften war in diesem Fall Andreas. Die Falte, es war die Falte. Der Tod hatte sie aus Agamemnons Gesicht herausgeschnitten. Das Leben hatte sie in Andreas Gesicht eingegraben. Es war die Geschichte einer Verwechslung. Denn alles Glück, von dem je Herzen gezittert haben, alle Größe, an die zu denken uns fast zerstört; jeder von den weiten umwandelnden Gedanken –: es gab Augenblicke, da sie nichts waren als das Schürzen von Lippen, das Hochziehen von Augenbrauen, schattige Stellen auf Stirnen: und dieser Zug um den Mund, diese Linie über den Lidern, diese Dunkelheit auf einem Gesicht, –
Diesmal seufzte die Erzählerin und Hannah wurde ärgerlich. Sie wollte den ursprünglichen Zustand zurück. Sie wollte Nora sein, nicht Kassandra, nicht Hannah. Erkenne dich selbst! Doch gibt es etwas zu erkennen, wenn man weiß, wer man ist? Sie wollte nur eine Geschichte erzählen. Ganz langsam war die Gewissheit gereift. Und nun das. Heißt schreiben Geschichten erzählen? Außerdem war es Noras Geschichte. War das die ganze Wahrheit?
   © Acta litterarum 2009