Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 20/2
Der durch das wiederholte Lesen des Textes beförderte Fortgang. Reisetagebücher
sind stets eine Fremdbeobachtung, die jedoch jeweils auch die
Selbstbeobachtung mit einbezieht. Sie offenbaren ein selektives Sehen,
das oft mehr über den Beobachter als über das Beobachtete aussagt. Der
wache Umgang mit dem Andersgearteten führt zur Erkenntnis, zur
Ausformung der eigenen Persönlichkeit. Nora war der Erzählerin
auf eine Weise nahe gerückt, die man in einer nüchternen Sprache
Identifikation nennen müsste. Nicht, dass sie ihr als Person ans Herz
gewachsen wäre. Das hätte nicht dieses seltsame Vibrieren erklärt, das
sie erfasste, sobald sie Nora aufs Papier bannte. Immer von neuem das
Gefühl, einem Spiegel gegenüber zu stehen. Immer häufiger spürte sie
das Ungute dieser Situation. Ein Spiegel zeigt nur die eine, die ihm
zugewandte Seite der Person. Die ›blinden Flecken‹ oder Flächen standen
für die fehlende Distanz zum Ego, das ja gleichzeitig ein alter Ego zu
sein hatte. Zudem beinhaltete der Name eine Hypothek, die die
Erzählerin weder einlösen konnte noch wollte. Nora war die gewendete
Person, die diesen Umstand einzuholen trachtete, der sich nicht vor den
Augen der Zuschauer oder besser der Leser vollzog, sondern in ihrer
Erinnerung.
Schweren Herzens trennte sich die Erzählerin und
ersetzte per Mausklick Nora durch Hannah. Einen Namen, der ihr ebenso
zugekommen war wie der erste. Und damit nahm das Unheil seinen Anfang.
Hannah hatte ein paar Eigenschaften und Charakterzüge, die sowohl bei
Nora wie bei der Erzählerin ungläubiges Staunen hervorriefen und ihnen
Unbehagen bereiteten. Hannah hatte ein irgendwie mythisch bewegtes
Wesen. Das erklärte ihre Haltung zu Kassandra, die Nora nicht nur ans
Herz gewachsen war, sondern ihr auch helfen sollte, ein wenig Klarheit
in die Wahrheitsfrage zu bringen.