Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 20/3
Die aufgeworfene Frage Habe ich den Menschen um mich herum, unbeugsam die Wahrheit sagend, Verletzungen heimgezahlt, die sie mir beigebracht?
war, um sie ihrer Bedeutung entsprechend ein drittes Mal zu nennen –
ein Vorgang, der selber mythischen oder eher noch magischen Charakter
hat –, trotz der leisen Ironie, die sich inzwischen in den Text
eingeschlichen hatte, eine ernsthafte und nicht einfach zu
beantwortende Frage. Hannah nahm Kassandra auf eine Weise an oder
vielleicht sogar in sich auf, die ihr Leben veränderte – und ihren
Blick auf Andreas. Sie war auf dem besten Wege sich zu verblenden, denn
ein weiterer Umstand kam hinzu. Andreas war Schriftsteller und sie
hatten sich angewöhnt, ihre Texte gegenseitig zu lesen, ja manchmal sah
es aus, als ob eine Art geheimer Verwebung sich nach und nach
eingestellt hätte. (Er als Mann hätte das sicher anders genannt, aber
das tut nichts zur Sache, ist nur der Nomenklatur geschuldet.) Die
Erzählerin stutzte, nun war Nora verwirrt. Wieso war dieser Umstand
bedeutsam? Er hing auf eine noch nicht ganz fassbare Weise mit Hannah
zusammen. Hannahs Sicht auf Andreas, die eigentlich Kassandras Blick
oder ihrer gedeuteten Erfahrung geschuldet war. Ja! Hannah hatte
Botschaften in den Text geschmuggelt. Die Flaschenpost. Wohl verpackt
und so durchsichtig wie undurchsichtig zugleich. Sie schrieb für
Andreas. Kein Wunder, dass der Text implodiert war. Kein Text vertrug
das. Zusammen mit dieser Erkenntnis stieg der Zorn in der Erzählerin
hoch. Hannah hatte sie hintergangen. Da hatte der Hermeneut leichtes
Spiel. Da befand er sich auf ureigenstem Terrain. Und so konnte er den
Stein ins Rollen bringen. (Den Stein? Wieso den Stein? Den Text.) Ein
Vorgang, der sich letztendlich gegen ihn wendete. Allmählich
kommen neben dem Ich-Kult andere Aspekte zum Tragen; die Einkerkerung
im eigenen Ich wird zugunsten einer Öffnung nach außen hin aufgegeben,
vor allem im Reisetagebuch, das stets auch für andere bestimmt ist und
in dem bildungsgeschichtliche Erfahrungen oder Prozesse festgehalten
werden. Das rückt die Tagebuchaufzeichnungen wieder in die Nähe der
Korrespondenz. (Correspondances!)