Anne Corvey: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 25/2
Ihr Geist reagierte mimetisch, durchschritt ein ums andere Mal dieselbe Gedankenanordnung. Wie ein Musiker, der immer wieder dasselbe Stück spielt, bis er es plötzlich hört. Hannah erwachte aus der Trance. Der Alte hielt inne in seiner Bewegung. Sein Blick heischte Einverständnis und Hannah begriff: Es war die Versuchung in Gestalt eines alternden Mannes, der ihr die Welt erklärte oder besser den Text. Doch das war in gewisser Weise ein und dasselbe. Lockend und ekelerregend. Die Bewegung frisst die Erinnerung wie die Revolution ihre Kinder, d. h. sie erzeugt und vernichtet sie sogleich. Erneut hob er zu sprechen an und diesmal erreichten seine Worte ihr Ohr. Die Stimme. Er sprach von der Stimme, die ihm den Text erschlossen habe. Gibt es die Frau, die langsam die Hüllen abstreift von meiner Seele, die meinen Körper glauben lehrt? Ihre Stimme? Wenn er wüsste. Hatte er das Recht sich zwischen sie und die Worte zu drängen? Von fremden Stimmen faselte er, die ihren Text zu Unrecht durchzögen. Die verhinderten, dass sie sich selber fände. Es sei eindeutig, sie stehe kurz vor der Vollendung. Das ist die Versuchung. Er verlangt meine Zustimmung zur Selbstdurchstreichung. Festlegung auf ein ›Selbstfindungsprogramm‹, das mein Denken als weiblich qualifiziert. Aber warum als weiblich? Stopft er mir in den Mund zurück, was die Frauen sich irgendwann auf ihre Fahnen geschrieben haben? Wieso wirkt er so weibisch? Wenn ich zulasse, dass er ›Hand an den Text legt‹, so lasse ich zu, dass er Hand an mich (uns alle drei?) legt. Geistiger Totschlag. Er müsste es doch eigentlich besser wissen. Was will er von mir? Das eigenartige Beharren auf meinem Namen. »Hannah... Sie sind Hannah.« Dauernd dieser unsinnige Satz. »Schön, dass Sie nun von Beginn an zu ihrem Namen stehen.« Er hat mich durchschaut, aber begriffen hat er nichts. Gott sei Dank, er ist nur ein Hermeneut, getrieben von Neid und Machtgelüsten, die sich als Einfühlung tarnen. Ein Hermeneut? Wieso Neid? Wieso Machtgelüste?
   © Acta litterarum 2009