Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 25/6
Blicksüchtig, ohne Netz
ersehnt sich der Stil. Im Absturz lockt
die reine Vertiefung. Was fällt heißt man
ein beschriebenes Blatt.

Hannah wusste nichts davon (aber sie ahnte Schlimmes, ihr Schicksal schien besiegelt und der Hermeneut hatte nicht einmal den leisesten Schimmer), doch sie ließ sich ziehen an einem der Fäden, die Nora ›dirigierte‹ und verhinderte auf diese Weise, dass der Hermeneut sich ein Bild machen konnte. Verhinderte die Eindeutigkeit. Hannah verließ den Bannkreis des Hermeneuten und verschwand – und er verschwand mit ihr. Zurück blieb der alte, ausgesprochen frisch und rosig anzuschauende Schriftsteller, der, in seinen Sessel gebettet, undeutliche Sätze murmelte. Hätte man sich zu ihm niedergebeugt und seinen Worten gelauscht, man hätte furiose Zukunftspläne vernommen. Seines Stachels beraubt, mochte er nicht glauben, dass das Spiel aus sei. Wie alt ein Gesicht auch sein mag, im Augenblick des Todes machen die ungelebten Gefühle es wieder jung.
   © Acta litterarum 2009