Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 25/5
Einer solchen Versuchung hatte sie sich ausgesetzt. Es grenzte an ein Wunder, wenn der Text ungeschoren davonkäme. Vollendet und zur Freigabe bereit, zur Freigabe an die Phantasie und den Deutungswillen oder die Deutungswut eines möglichen (normalerweise anonymen und wohl auch besser nie zur Kenntnis des Autors gelangenden) Lesers war der Text, wenn er in der Lage war, für sich selbst zu sprechen. Und doch ... mir war, als nahe sich ... Aber warum sollte Er kommen? Und ich kenne doch seine Tücken? Ich habe den scheußlichen Anachoreten, der mir lachend kleine heiße Brote anbot, zurückgestoßen, den Zentauren, der mich auf den Rücken nehmen wollte – und das schwarze Kind mitten in der Wüste, das sehr schön war und das mir sagte, es heiße der Geist der Hurerei! Ein literarischer Text war ein sensibles Gebilde, das Geduld und Ausdauer verlangte und – nicht zuletzt - ›heiligen Ernst‹. Sie waren ihm bekömmlicher, als der allgegenwärtige Durchsetzungswillen. Sensibel schien – und bisweilen, fürs Publikum gut aufbereitet – der Autor. Nora! Der Name schoss blitzartig hoch. Nora rang mit dem Hermeneuten und auf unerklärliche Weise war auch Andreas in das Spiel verwickelt. War er die fremde Stimme? Nicht Kassandra, nicht Hannah, die...
Hannah sprang auf. Nur Nora wusste (und mit ihr die Erzählerin), dass der Text an sein Ende gekommen war. Während Hannah ihrer Eitelkeit frönte, hatte Nora die Fäden in die Hand genommen und neu geordnet, auf ihre Weise. Sie wollte ihr Projekt (und möglicherweise ihre Beziehung zu Andreas) nicht gefährden lassen von einer leichtgläubigen und eitlen Person, die eine mythische Verstrickung hinderte, den Fakten ins Auge zu blicken und die Fäden zu zerreißen.
   © Acta litterarum 2009