Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 25/4
Der Hermeneut redete
weiter auf sie ein. Ununterbrochen begleitet von den absonderlichsten
Drehungen und Wendungen. Hannahs Zorn wuchs und sie hob abwehrend die
Hand, um sein Schweigen zu erzwingen. Da vollführte er eine Figur, die
seine Kehrseite zeigte. Einen Moment nur. Doch der genügte, sein Spiel
zu durchschauen. Das falsche Spiel und – das (ab)gewendete Geschlecht. Die Kehrseite war die falsche Verheißung.
Ach wie gut, dass niemand weiß,
dass ich Rumpelstilzchen heiß.
Er wollte den Tod des anderen. Welches anderen? Wollte
seine Stimme zum Schweigen bringen. Hannah sollte ihm dabei
assistieren, indem sie seinen Wortsinn akzeptierte. Er wollte sich an
die Stelle Agamemnons setzen. Er war auch so ein falscher Erlöser, den
sie (Hannah, Kassandra, Nora?) in ihrem Schoß wiegen sollte. Die Stimmen. Vor allem jedoch die eine, die die Zukunft ist und sich zum Chor vereint mit all den Stimmen der Vergangenheit.
Hannah fasste sich an die Stirn. Ihr Kopf dröhnte. Eigenwillige
Gedanken. Waren es Gedanken? Die Stimmen töten hieße, einen Teil von
sich töten, den selbstbestimmten. Tod durch das Wort.
Aber was war mit den Stimmen? Waren es nicht die ihren? Das eine waren
die Stimmen im Kopf, die galt es sorgfältig auf ihre Ursprünge und
Funktionen hin zu analysieren. Die Stimmen im Text aber beruhten auf
Entscheidungen, richtigen oder falschen. Diese Unterscheidung aber
konnte kein anderer treffen. Ah! Das
ist gut! Der Allerhöchste erhebt seine Propheten über die Könige; und
gerade dieser schwelgte doch in Gelagen, taumelte von Genuß zu Genuß
und war trunken vor Eitelkeit. Aber Gott hat ihn zur Strafe in ein Tier
verwandelt. Er lief auf allen vieren! Ein Prozess, der eine Gratwanderung bedeutete, war er doch durch allerlei Versuchungen gefährdet.