Renate Solbach: Camera inversa
| Schreibgeräte 2/2
Es passiert!
»Genau in dem Augenblick ist es richtig. Vorher wirkte es roh und
trivial und anschließend, nach dem Durchgang durch diesen, diesen
dichtesten Punkt, den Punkt der Wendung wirkt es anders, geradezu neu,
um sich dann bei näherem Hinsehen als das Immergleiche zu erweisen.
Doch auch dieser Blick täuscht. Du drehst die Uhr aufs Neue und der
Vorgang ereignet sich ein weiteres Mal. Endlos – oder nicht? – könnte
es so weitergehen, ohne dass sich etwas ändert. Und doch. Jeder dieser
Prozesse entlässt dich selbst als eine gewandelte, eine erneuerte und
ja – man muss es aussprechen auch wenn es sich pathetisch oder religiös
gefärbt anhört – irgendwie geläuterte Person. Das, was dabei
herauskommt, wirkt auf den ersten Blick unerheblich, jedenfalls für
dich, oder vielleicht präziser, es wirkt erst, wenn es von dir abgelöst
ist und unter eigenen Gesetzen steht.« – – »Weißt du, das Bild stimmt
und stimmt nicht. Seine Verwendung ist es, die die Stimmigkeit erzeugt.
Die Sanduhr ist nur in der Lage, die Verwandlung der ruhenden Zeit in
lebendige zu vollziehen, wenn du sie ergreifst, sie wendest und damit
den Vorgang der Wendung, der sich in ihr abspielt und für den sie
steht, herbeiführst. Insofern ist dieses schlichte Bild äußerst
komplex.«
Sie holte tief Luft und schaute ihn erwartungsvoll an.
Sein Blick hatte sich verschleiert und nach innen gekehrt. Es dauerte
einige Minuten bis er bemerkte, dass sie zu einem – zumindest
vorläufigen – Ende des Plädoyers gekommen war. »Aber genau das ist es
ja, was ich dir die ganze Zeit klarzumachen versuche. Da sind wir uns
einig. Ich weiß wirklich nicht, wieso du das dauernd als Einspruch
formulieren musst. Da gibt es keinen Dissenz!«
© Acta litterarum 2009