Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 2/3
»Das Ausgangsmaterial, die Bilder sind andere. So anders aber auch nicht, wie sich in der letzten Zeit gezeigt hat. Auf eine rätselhafte, durch unseren steten Austausch wiederum sehr verständliche Weise verschränken sie sich. Wir haben uns von verschiedenen Polen her aufgemacht und uns unaufhaltsam aufeinander zu bewegt. Oder willst du das leugnen?«
Sie hob die Arme, streckte sie der Sonne entgegen, die für einen kurzen Moment durch das Fenster der kleinen Bar hereinschaute, um sie dann hinter dem Kopf zu verschränken. »Ach du!« Im selben Moment verfielen sie beide in ein herzhaftes, befreiendes Lachen. »Es ist viel zu schön, um zu streiten!« – »Aber ich streite doch gar nicht. Komm, lass uns gehen. Heute ist der Tag für den längst fälligen Besuch im Teatro Olympico. Oder hast du keine Lust?« Beinahe gleichzeitig erhoben sie sich, zahlten und schlenderten ein wenig müde und träge geworden dem gemeinsamen Ziel entgegen. Dort angekommen teilte ein Anschlag ihnen mit, dass ein Streik die Tore des Teatro heute für sie verschlossen halten würde. Der Geruch des Theaters war die alles überwölbende Erinnerung. Ein Geruch, der die vergangenen Zeiten in sich aufgespeichert hatte und sie nach und nach freiließ, während der Blick neugierig und bildungssüchtig umherschweifte. Eine Illusion, instrumentiert von den Bildern im Kopf, die das eigene Wissen abbilden und ein Amalgam herstellen, eine Art chemischer Verbindung mit der ›Präsenz‹ des Ortes und seinen Ausstrahlungen.
   © Acta litterarum 2009