Renate Solbach: Camera inversa
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Nach
Hannahs Abgang, so formulierte Nora die Situation für sich, da sie seit
einiger Zeit keinen Zugang mehr hatte (und wohl auch wollte) zu diesem
Teil der Person, sah sie sich nicht nur einer veränderten Situation
gegenüber, sondern in gewissem Sinne einem Neuanfang. Nun
also. Ich wiederhole, da du nicht anders denn als Gebilde meiner
Fantasie existierst, da du daher nur das tun kannst und darfst, was
meiner königlichen Laune beliebt, und da es eben dieser nicht beliebt,
dass du dir das Leben nimmst, so wirst du es auch nicht tun. Nun weißt
du es. Das Manuskript war wertlos geworden. Mochte sie es auch
bedauern, so eröffnete das andererseits Spielräume und sie war gewillt,
das Beste aus diesem Umstand zu machen, wie man in Unkenntnis des
Kommenden oft allzu schnell bekräftigt. Eben
gestern sprach Ariost von den Gebilden seiner Phantasie und meinte, er
habe im Innern Gestalten und Begebenheiten geschaffen, die niemals in
Raum und Zeit existierten. Ich bestritt, dass dies möglich, und er
musste mir einräumen, dass es nur Mangel höherer Erkenntnis sei, wenn
der Dichter alles, was er vermöge seiner besonderen Sehergabe sich in
vollem Leben erschaue, in dem engen Raume seines Gehirns einschachteln
wolle. Sie hatte die Wahl gehabt. Entweder sie gab sich und ihre
Prinzipien auf oder sie akzeptierte den Verlust, der mit dem
Verschwinden Hannahs eingetreten war. Die Lücke, die das hinterließ,
war nicht unerheblich. Sie hatte der Entwicklung Hannahs mit Staunen
und einer gewissen Ungläubigkeit zugesehen: dass solch mythische
Verhaftung in ihr steckte. Doch ihr blieb nichts übrig, als den Fakten
ins Auge zu blicken und den Schaden – so weit möglich – zu begrenzen.
© Acta litterarum 2009