Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 3/1
3
Nach Hannahs Abgang, so formulierte Nora die Situation für sich, da sie seit einiger Zeit keinen Zugang mehr hatte (und wohl auch wollte) zu diesem Teil der Person, sah sie sich nicht nur einer veränderten Situation gegenüber, sondern in gewissem Sinne einem Neuanfang. Nun also. Ich wiederhole, da du nicht anders denn als Gebilde meiner Fantasie existierst, da du daher nur das tun kannst und darfst, was meiner königlichen Laune beliebt, und da es eben dieser nicht beliebt, dass du dir das Leben nimmst, so wirst du es auch nicht tun. Nun weißt du es. Das Manuskript war wertlos geworden. Mochte sie es auch bedauern, so eröffnete das andererseits Spielräume und sie war gewillt, das Beste aus diesem Umstand zu machen, wie man in Unkenntnis des Kommenden oft allzu schnell bekräftigt. Eben gestern sprach Ariost von den Gebilden seiner Phantasie und meinte, er habe im Innern Gestalten und Begebenheiten geschaffen, die niemals in Raum und Zeit existierten. Ich bestritt, dass dies möglich, und er musste mir einräumen, dass es nur Mangel höherer Erkenntnis sei, wenn der Dichter alles, was er vermöge seiner besonderen Sehergabe sich in vollem Leben erschaue, in dem engen Raume seines Gehirns einschachteln wolle. Sie hatte die Wahl gehabt. Entweder sie gab sich und ihre Prinzipien auf oder sie akzeptierte den Verlust, der mit dem Verschwinden Hannahs eingetreten war. Die Lücke, die das hinterließ, war nicht unerheblich. Sie hatte der Entwicklung Hannahs mit Staunen und einer gewissen Ungläubigkeit zugesehen: dass solch mythische Verhaftung in ihr steckte. Doch ihr blieb nichts übrig, als den Fakten ins Auge zu blicken und den Schaden – so weit möglich – zu begrenzen.
   © Acta litterarum 2009