Renate Solbach: Camera inversa
| Schreibgeräte 4/1
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Langsam,
doch unbeirrbar machte ihr Geist sich auf die Reise durch die Zeit. An
einen Ort, der so nicht mehr vorhanden war. In einem weiß gekälkten,
trotz der Mittagshitze durch den vorgeschobenen Fensterladen kühlen
Raum, der einer Klosterzelle glich, ließ er sich nieder. (Unwillkürlich
musste sie an Kassandra denken.) Vor der breiten steinernen Fensterbank
stand ein winziger Schreibtisch mit einem Notebook. Ein Schrank, ein
Bett, ein Stuhl waren die einzigen weiteren Möbel. Der Geruch von
reifen Äpfeln entströmte ihnen. Existenz aus Erinnerung. Eine Frau lag
auf dem Bett, in Gedanken gehüllt, der Zeit enthoben. Die intensive
Empfindung von Glück, die von ihr ausging, umschloss alle Gegenstände
im Raum. Selbst das Licht war anders als gewöhnlich. Oder war das eine
Täuschung? Schien die Sonne nicht immer und an jedem Ort gleich? Damals
hat Chirico erkannt, das er nur malen konnte, wenn er von einer
gewissen Anordnung der Gegenstände überrascht (als erster überrascht)
war, und dass das ganze Rätsel der Offenbarung für ihn in dem Wort
›überrascht‹ lag. Sicher, das daraus folgende Werk blieb mit dem, was
sein Entstehen hervorgerufen hatte, eng verbunden, aber es ähnelte ihm
nur in der befremdenden Art zweier Brüder, oder vielmehr wie das
Traumbild einer bestimmten Person der wirklichen.
© Acta litterarum 2009