Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 4/2
Nora lag auf dem Bett ihres Hotelzimmers und beobachtete das durch die Spalten der Läden in Streifen geschnittene Licht. Sie lauschte den Geräuschen, die von unten aufstiegen und die, je höher sie kamen, desto intensiver wurden. Ein Effekt, der sich der Enge der Gasse verdankte. All dies war die Grundierung zu den Erinnerungsversuchen, die sie angestrengt und konzentriert unternahm. Oder war es umgekehrt, dass das Licht und die Geräusche die Erinnerungen mit sich trugen, sie ›herbeiwehten‹ in der vorerst nur gespürten Differenz zwischen damals und heute? Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Haus ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Ein Stockwerk tiefer. Die Sonne glänzte in Abwesenheit. Die Gegenstände im Raum waren den damaligen verschwistert, seitenverkehrt ihre Anordnung. Ein Spiegelbild? Sie selber gealtert oder sollte sie sagen ›gereift‹? Neu gespannt in ihren Bezügen. Selbst die Versenkung half nicht mehr, die Erinnerung lebendig werden zu lassen. Nora erhob sich vom Bett, trat ans Fenster und lehnte sich über die breite steinerne Fensterbank, um die Läden aufzustoßen. Das hereinströmende Licht entsprach nicht der Tageszeit. Die enge Gasse hielt es in einem milchigen Dämmerzustand, der durch die Abwesenheit der Sonne noch gesteigert wurde.
   © Acta litterarum 2009