Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 5/1
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»Was ist mit dir? Bist du enttäuscht?« – »Wieso enttäuscht? Ich habe etwas anderes erwartet. Jetzt frag nicht, was. Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß es selber nicht. Nur nicht das.« – »O nein, das ist nicht abwertend gemeint. Im Gegenteil. Es ist alles da. Es ist befreiend. Ich bin nicht enttäuscht, ich bin überrascht. Alles ist anders. Wie wenig geschieht. Wie winzig die Veränderungen. Ein Lufthauch, der leise ein Blättchen bewegt, das wie Zentnerlast auf der Seele liegt. Erfrischung, Bewegung, Irritation? Immer weiß man es erst im Nachhinein.« – Nora legte das Manuskript zur Seite und wandte sich Andreas zu. Er hatte sich ihren Aufenthalt in dieser Stadt anders vorgestellt. Ihre schlechte Laune – oder das, was er für schlechte Laune hielt – irritierte ihn. Im Gegensatz zu Nora schien für ihn das Wetter, das ›Ambiente‹ wie es sich bei dem dauernden Regen präsentierte kein Problem darzustellen – und eine italienische Stadt war etwas grundsätzlich anderes je nachdem, ob die Sonne schien oder ob der Himmel seine Schleusen über Wochen geöffnet hielt. Die Worte flossen aus seiner Feder mit einem Gleichmaß und einer Beharrlichkeit, die dem Regen Konkurrenz machte. Vielleicht waren sie ihm ja geschuldet. Das irritierte Nora. Zudem war sie verwirrt von dem Text, den Andreas ihr gegeben hatte. Verwirrung verdunkelte ihr Gesicht, gab ihm ein finster angestrengtes Aussehen, das Andreas als Zeichen schlechter Laune deutete. Wie Intarsien waren die Bruchstücke ihres Begreifens in ihr Gesicht eingelegt, kleine Holzbalken. Einsinken stand unter dem Jochbein, Aufsteigen über der Augenbraue und auf der Stirn Kälte, die Haut war verzerrt, der Mund verfiel. Lediglich die Augen verliehen der Ratlosigkeit beredten Ausdruck.
   © Acta litterarum 2009