Renate Solbach: Camera inversa
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»Was
ist mit dir? Bist du enttäuscht?« – »Wieso enttäuscht? Ich habe etwas
anderes erwartet. Jetzt frag nicht, was. Ich kann es dir nicht sagen.
Ich weiß es selber nicht. Nur nicht das.« – »O nein, das ist nicht
abwertend gemeint. Im Gegenteil. Es ist alles da. Es ist befreiend. Ich
bin nicht enttäuscht, ich bin überrascht. Alles ist anders. Wie wenig
geschieht. Wie winzig die Veränderungen. Ein Lufthauch, der leise ein
Blättchen bewegt, das wie Zentnerlast auf der Seele liegt. Erfrischung,
Bewegung, Irritation? Immer weiß man es erst im Nachhinein.« – Nora
legte das Manuskript zur Seite und wandte sich Andreas zu. Er hatte
sich ihren Aufenthalt in dieser Stadt anders vorgestellt. Ihre
schlechte Laune – oder das, was er für schlechte Laune hielt –
irritierte ihn. Im Gegensatz zu Nora schien für ihn das Wetter, das
›Ambiente‹ wie es sich bei dem dauernden Regen präsentierte kein
Problem darzustellen – und eine italienische Stadt war etwas
grundsätzlich anderes je nachdem, ob die Sonne schien oder ob der
Himmel seine Schleusen über Wochen geöffnet hielt. Die Worte flossen
aus seiner Feder mit einem Gleichmaß und einer Beharrlichkeit, die dem
Regen Konkurrenz machte. Vielleicht waren sie ihm ja geschuldet. Das
irritierte Nora. Zudem war sie verwirrt von dem Text, den Andreas ihr
gegeben hatte. Verwirrung verdunkelte ihr Gesicht, gab ihm ein finster
angestrengtes Aussehen, das Andreas als Zeichen schlechter Laune
deutete. Wie Intarsien waren die
Bruchstücke ihres Begreifens in ihr Gesicht eingelegt, kleine
Holzbalken. Einsinken stand unter dem Jochbein, Aufsteigen über der
Augenbraue und auf der Stirn Kälte, die Haut war verzerrt, der Mund
verfiel. Lediglich die Augen verliehen der Ratlosigkeit beredten Ausdruck.
© Acta litterarum 2009