Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 5/2
Die Augen aber hielt Nora auf das Manuskript gerichtet. Sie hatte es mit einer Mischung aus Faszination und innerer Anspannung gelesen. War Anspannung der richtige Ausdruck? Sie war dem Impuls geschuldet, sogleich zum Stift zu greifen und das, was ihr beim Lesen durch den Kopf schwirrte, aufzuschreiben. Eigentlich stand schon alles da. In einer Weise, wie sie es nie hätte ausdrücken können. Doch das Getilgte ist nicht getilgt. Hinter dem tilgenden Raster behauptet es seinen Platz, blickt den Betrachter an wie die Gesichter von Gefangenen auf einer Kinderzeichnung. Es ist vorhanden, nach wie vor: als Durchgestrichenes, als, wie der Ausdruck lautet, Entferntes. Welche Ferne wird da geschaffen? Zeigte es die große Nähe der Themen und Gedanken ? Die endlosen Gespräche, die zu jeder Zeit und an jedem Ort aufgenommen werden konnten, so als sei alles, was in der Zwischenzeit durch ihre Köpfe gewandert war, dem anderen bekannt. Als seien die Pausen zwischen den Gesprächen kein Abbruch oder Verstummen, sondern deren lautlose Fortsetzung.
Ein plötzliches Schuldgefühl Hannah gegenüber stieg in Nora hoch. Es war wohl nicht einfach passiert, dass Hannah ihr abhanden gekommen war. Sie hatte es befördert. Der Vorwurf, Hannah habe Botschaften in ihre Texte geschmuggelt, Botschaften an Andreas, war ungerecht, das wurde ihr mit einem Mal klar. War es Eifersucht? Aber worauf? Hannah stand ihr mindestens so nah wie Andreas, war in gewisser Weise ein Teil von ihr. Der Teil, den sie lieber in den Falten und Ritzen ihres Bewusstseins verborgen hielt. Im Unbewusstsein, wie Nora diese Gegend, in Ablehnung des ›Unter‹, nannte. Sie mochte ihr Innenleben nicht aufgeteilt in Stockwerke betrachten, in dem die der freien Verfügung unzugänglichste Etage dieses finstere ›Unter‹ war. Ein Keller, in dem lichtscheue Gewächse ihr Wesen trieben, deren modriger Duft das ganze Gebäude durchzog. Ihre Psyche war keine Ausgrabungsstätte für Seelenarchäologen. Der Boden – die Terra firma, die eigentliche, die nicht eingebildete Welt – schien unmöglich und weit entfernt, ein Punkt in Raum und Zeit, den sie nie würde erreichen können, nicht einmal in Jahrmillionen. Auf dieser sich drehenden Treppe unten angekommen, würde sie sich dem Minotaurus gegenübersehen, der sie verschlingen würde.
   © Acta litterarum 2009