Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 6/1
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Es gab Tage, an denen nichts half. An solchen Tagen streifte Nora durch die Stadt. Seit ihrer Ankunft in Vicenza dehnte solche Verfassung sich straßenförmig aus. Die Stadt foppte sie jeden Tag aufs Neue. Regen und Sonne wechselten in einem atemberaubenden Tempo. Kaum hatte sie sich auf den Regen eingestellt, brach die Sonne hervor. Wagte sie nach einigem Zögern, sie zu genießen, öffnete der Himmel erneut seine Schleusen. Das Wetter verhalf Noras Gefühlen zu neuen ungeahnten Wechselbädern. Alles nur, weil sie so mutig war und sich geweigert hat, sich selbst auf die von anderen vorgegebene Weise zu betrachten. Es kommt ihr so vor, als hätte sie sich selbst zerstört in dem Versuch, sich selbst zu erschaffen.
Es gibt Orte, die reichen nur für einen. Andere bieten mehr Raum. Wenn es dunkel wurde, wechselte die Stadt ihr Aussehen. Sie warf sich den Schein der Lampen um,  wurde Innenraum. Etwas war anders. Ihre täglichen Gänge durch die Straßen. Gleichmäßig strömender Regen. Menschen, die unbekannten Zielen entgegeneilen. Verlorenheit inmitten der Stimmen, die wohltuend wirkt. Nicht das Raue des Nordens. Die Stimmen durchziehen dich wie Melodien. Rühren an, ohne dich zu vereinnahmen. Die Verfertigung von Gedanken beim Gehen. Die Stadt als Peripatos.
   © Acta litterarum 2009