Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 6/2
Zuhause peinigten die Stimmen sie oft genug. Zuhause verstand sie die Worte, die in Form von Stimmen auf den Straßen umherschwirrten, sich in ihrem Kopf festsetzten, die eigenen Gedanken vertrieben. Kuckuckseier. Frauenstimmen vor allem. Sägend, kreischend, spitz, stets eine Oktave zu hoch. Doch manchmal dachte ich, unterzutauchen in einem Gemeinplatz, das könnte ein Anfang sein. Das alte Hotel am Fluss. Reisen und Ankommen. Die Autofahrten zu zweit. Nur Tanken unterbrach das Dauergespräch. Eingesponnensein in das Geratter des Zuges. Die Fortsetzung der langen Gänge. Die Umkehrung. Das Glück. Die Flüchtigkeit der vorbeieilenden Landschaften. Seltsame Wendungen des Lebens. Cafés, Plätze, Kirchen, Treppen, Gerüche, Geräusche, Empfindungen. Sie tauchten auf und entschwebten. Wenn Nora sich später erinnerte, schnurrten die Eindrücke, die ihr im Moment des Erlebens so unverwechselbar und nachhaltig schienen, zusammen wie ein überdehntes Gummiband. ...aber sie wissen nicht, dass ich hier stehe und sie betrachte, und im Betrachten, etwas von ihnen zurückbehalte, als werde ihnen durch die Betrachtung ein Stück ihrer Existenz geraubt und zurückgegeben.
An ihren Streifzügen durch die heimatliche Stadt liebte Nora die Verkehrung des Blicks. Schaute mit neugierigen Augen in erleuchtete Fenster, hinter deren Scheiben sich Menschen bewegten auf einer unfreiwilligen Bühne. Stand sinnend vor Schaufenstern, deren lebloser Inhalt Aufschluss versprach. Man möblierte sich anders heutzutage. Da wo der Kult haust. Johnny Tapete.
   © Acta litterarum 2009