Renate Solbach: Camera inversa
| Schreibgeräte 5/3
Aber Eifersucht?
Das hieße die Hypothese in Betracht ziehen, dass Eifersucht sich gegen
die eigene Person richten kann. Ein selbst verzehrendes Gefühl. War sie
überhaupt ein Gefühl? Ist alles, was man zu empfinden glaubt, ein
Gefühl? Erneut fühlte Nora sich schuldig. Ein Mensch war kein Besitz,
und wenn sie nicht bereit war, Andreas mit Hannah zu teilen, wie mochte
das dann im Leben aussehen? Andreas Manuskript hatte einen Impuls in
ihr wach gerufen, den sie nur allzu gut kannte. Sie sollte endlich mit
sich ins Reine kommen. (War das nicht eine dem Schreiben geschuldete
Stilisierung? Eine, die man vor sich her trug, wenn man nicht sicher
war, dass das Talent einen trug?) Wie gesagt, Nora kannte den Impuls.
Das weiße Blatt verhielt sich zu den Gedanken und Bildern wie ein
Staubsauger. Sie entschwanden. Unzugänglich. Entsorgt. Es kam ihr stets
vor, als versuche sie Leichen zu beleben. Völlig entnervt oder
entmutigt – je nachdem in welcher Verfassung sie sich befand und welche
Wichtigkeit sie dem in einem solchen Moment zumaß – nahm sie ein Buch
und begann zu lesen. Über kurz oder lang verspürte sie den Wunsch, es
wieder zur Seite zu legen. Der Autor
wählt weniger, als dass er verwirft: glücklich die Wörter, die ihren
Platz behaupten. Unglücklich die Wörter, die vertrieben werden:
entfernt und noch zur Stelle. Von den übervollen Seiten flogen
ihr die Buchstaben zu, die sie vorher so schmerzlich vermisst hatte.
Operation am offenen Herzen. Vollführten einen Tanz, bildeten Figuren,
die den gelesenen ähnelten. Anders waren. Sich im Stift konzentrierten
und von dort auf die Seiten flossen. Mit einer Geschwindigkeit, die
Nora zuweilen atemlos machte. Sie wechselten einfach die Seite.
© Acta litterarum 2009