Renate Solbach: Camera inversa
| Schreibgeräte 5/4
Der Ausdruck traf
die Gegebenheit nicht ganz. Am Ende standen die gelesenen und die
geschriebenen Buchstaben da. Auf beiden Seiten. In einträchtiger, um
nicht zu sagen verschwörerischer Gemeinschaft. Merkwürdig
oder nicht – in jenen Jahren hat sie zu schreiben begonnen. Wieso
merkwürdig? Sollte nicht jede Zeit gleich gut oder schlecht für den
Versuch sein, sich in und außer sich zu suchen. Nur der Argwohn,
man könne das als Zeichen geistiger Verwirrung werten, ließ sie
zurückschrecken vor der Behauptung, den Worten entschlüpfe ein leises
Kichern, sobald sie ihr Staunen bemerkten. Aber auch darüber hatte sie
sich inzwischen beruhigt. Letztlich würde sie ihrer Herr werden.
Letztlich, wenn die Atemlosigkeit des Schreibens vorüber war, sie in
aller Ruhe gelesen hatte, was dastand, würde sie ihnen die Form
aufzwingen, die die ihre war. Keine Fremdzensur ohne Selbstzensur, kein Selbst ohne Zensur.
Es handelte sich um ein Durchgangsstadium. Ist Lesen Identifikation, so
ist Schreiben Individuation, der Wunsch nach Unterscheidung. Obwohl?
Manchmal beschlich sie ein leiser Zweifel. Die Dinger waren so verflixt
geschickt, so biegsam und wendig, dass man nicht sicher sein konnte,
dass das, was man las, auch wirklich da stand und das, was da stand,
dem entsprach, was man niederschreiben wollte. Ein
extremer Fall, wie geschaffen, den Mechanismus der Ersetzung, der unter
der Oberfläche schöpferischer Spontaneität wirksam ist, in Augenschein
zu nehmen. Große und kleine Gaukler, die einer den anderen nach
sich zogen. Sie verbündeten sich miteinander auf allen Ebenen. Hatten
schon wieder ein Ganzes gebildet, noch ehe die Verlangsamung
stattgefunden hatte. Entdifferenzierung gegen die nur wiederholtes
Lesen half. Sich der Sprache
anvertrauen, die einen Sinn setzt. Der Sprache misstrauen, die
Sachverhalte vortäuscht. Lebendiges Wesen oder Instrument? Wer will das
entscheiden?
© Acta litterarum 2009