Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 4/5
Mit wirklicher Erinnerung hatten solche Rituale nicht viel zu tun. Wirkliche hatte ihren Sitz im Leben und war eine wichtige Grundlage des Schreibens. Mit dem beschriebenen Ritual konservierte man Ereignisse. Die ›Gebetsmühle‹, die das Erinnerte verfügbar machte bei ›emotionalem Bedarf‹, um diesen ein wenig neurotischen Vorgang kühl zu qualifizieren.
Das Proustsche Konzept, die absichtsvoll herbeigeführte spontane Erinnerung, segelte in gewisser Weise unter falscher Flagge, die sicherlich dem damaligen ›comment‹ entsprach, dem ein bestimmtes ästhetisches Konzept angemessen schien. Es beruhte – unter anderem – auf seinem (und vieler Zeitgenossen) Misstrauen gegen ein von Vernunft und Willen gesteuertes Gedächtnis. Der Punkt, an dem Erinnern in produktiver, das Verstehen und damit auch Leben und Schreiben befördernder Weise einsetzte, war ein Evidenzpunkt. So wie es das spontane Erinnern angesichts der in den Lindenblütentee getauchten Madeleine suggerierte. Es gab einen Unterschied, vielleicht war es nur einer auf der Suche nach der verlorenen Zeit, rezipierte man Proust genau. Die Proustsche Mnemopoetik kann daher mit gleichem Recht eine Poetik des Vergessens wie auch eine Poetik der Erinnerung genannt werden, am besten wohl eine Poetik der Erinnerung aus der Tiefe des Vergessens. Es ging nicht nur darum, dass in einem solchen Moment ein Ereignis aus einer fernen Vergangenheit auftauchte, in der es geschlummert hatte, um sich für diesen Vorgang zu qualifizieren. Die zugleich mit dem Ereignis auftauchende momenthafte Erkenntnis musste nachdenklich eingeholt werden, da sie sich in ihrer punktuellen Natur der beschreibenden Erfassung entzog. Sie zerschlug das Netz, das die Sinne gefangenhielt und wirkte analytisch. Wie ein Blick aus dem Fenster in die gewohnte Umgebung, in den mal blauen mal grauen Himmel, der mit einem Male Bilder produzierte, die die Welt neu ordneten. Ein Blick, der Nora in langen Jahren zur lieben Gewohnheit geworden war und von dem sie sich irgendetwas zu erhoffen schien. Alles war eine Frage des günstigen (um nicht zu sagen rechten) Augenblicks und – natürlich – des Ausblicks. Gefragt waren lediglich eine gewisse Geduld und Beharrungsvermögens, das, was man ›bei der Sache bleiben‹ nannte.
   © Acta litterarum 2009