Renate Solbach: Camera inversa
| Schreibgeräte 4/4
Die unmittelbare
sinnliche Präsenz des vor zwei Jahren bewohnten Raumes hatte sich in
dem Moment verflüchtigt, in dem das Bild seine Funktion als Verstärker
verloren hatte. Es war nicht länger der Geist aus der Flasche, der ihr
sagen konnte und sollte, was Glück ist. Vielleicht
war sie so daran gewöhnt, dass ein Ziel fern war und es weniger darum
ging, es sofort zu erreichen, als es sehnsüchtig zu wünschen und
schrittweise zu erobern, dass es ihr in dem Moment, in dem es ganz nah
rückte, plötzlich klein und farblos erschien, und alles Großartige,
womit sie es umkleidet hatte, in sich zusammenfiel, sobald sie der
Sache sicher war. Ihr Bedürfnis, dieses Gefäß zu öffnen, war seltener geworden. Das Bild wurde abgelegt im Archiv der Erinnerungen als wichtige Station einer Reise.
Warum
aber hatte sie diese Reise (gemeinsam mit Andreas) unternommen, eine
Reise an den Ursprung. Den Ursprung von was? Und was hieß nun Glück?
Das Glück hatte seine Gestalt verändert, hatte sich ausdifferenziert,
wechselnde Farben, Formen und Gerüche angenommen. Es war alltäglich
geworden und nicht mehr – wie man ihm nachsagte – nur als bereits
vergangenes zu erinnern und ins Bewusstsein zu rufen. Nora und Andreas
waren seit einiger Zeit das, was man ein Paar nennt.
Das
Erinnern hatte den Charakter eines Rituals gehabt. Ein Rosenkranz, bei
dem man von Perle zu Perle fortschreitend, die immer gleichen Worte
sprach. (Nora gehörte zu den Frauen, die ihre Schallplatten wieder und
wieder dasselbe Lied spielen ließen, um sich in einen bestimmten
Zustand zu versetzen. Die Männer witzelten gerne darüber. Die
abgenudelten Rillen sprachen ›Bände‹. )
© Acta litterarum 2009