Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 4/3
Schon vor geraumer Zeit war ihr aufgefallen, dass sich das Bild, dass sie so lange mühelos aufgerufen hatte, zunehmend flacher und matter präsentierte. Die Gefühle und Gerüche hatten sich verflüchtigt. Was blieb, war ihre erinnerte Qualität, die den Charakter des Augenblicksverhafteten eingebüßt hatte. Die Flächigkeit des Bildes gab der Möglichkeit des Ausgreifens Raum. Das Standbild hatte ›Laufen gelernt‹. Merkwürdigerweise war dabei eine Dimension verlorengegangen. Zehn Stufen war Proust hinabgeschritten, zehnmal hatte er sich ›hinuntergebeugt‹ ehe er sein Und dann mit einem Male war die Erinnerung da niederschreiben konnte. Entgegen allen Gewohnheiten hatte sie ›ihren Proust‹, wie sie stets ein wenig kokett zu sagen pflegte, diesmal nicht dabei. Eine Lektüre, die viele Reisen begleitet hatte. Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, dass die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber erkennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muss die Wahrheit finden. Doch wie?
   © Acta litterarum 2009