Renate Solbach: Camera inversa
| Schreibgeräte 3/2
Schließlich war
sie selbst es gewesen, die Kassandra und allem, was damit zusammenhing,
Zutritt gewährt hatte. Plötzlich und unerwartet war sie aufgetaucht. Noch
schwieriger als die Selbsterkenntnis ist es für einen Romanschreiber
oder für einen Dramatiker, die Figuren zu begreifen und zu verstehen,
die er selbst erfindet oder zu erfinden glaubt... Was den
alternden Schriftsteller anging, der sich als neidischer und
machtlüsterner Hermeneut erwiesen und ihre Kreise empfindlich gestört
hatte, so bedauerte sie seinen Verlust, schließlich war er auch ein
Freund gewesen. Das Ergebnis von Hannahs Besuch betrachtete sie jedoch
als gerechtfertigte Folge eines Verhaltens, das gerade ihm niemand
zugetraut hätte. Jedenfalls, das Manuskript war wertlos geworden, es
hatte – angestoßen durch Hannah – denselben Weg genommen wie Kassandra,
hmm... Tod durch das Wort. Eine
Form der Selbstauslöschung, der sie mit gemischten Gefühlen
gegenüberstand, und die hinzunehmen, ihr nicht leicht gefallen war. Es
gab noch die Datei im Notebook, die sich jedoch gegen alle
Wiederbelebungsversuche resistent gezeigt hatte. Und so kehrte sie –
auf der einen Seite missmutig und ärgerlich und auf der anderen voll
gespannter Neugier – zu den Anfängen zurück, den Aufzeichnungen in der
Kladde. Die Spuren führten bis in die Kindheit. Schweig
jetzt: ich will diese Impertinenzen nicht mehr hören! Noch dazu von
einem Wesen, das mein Geschöpf ist! Und da ich bereits genug von dir
habe und nicht mehr weiß, was ich mit dir anfangen soll, beschließe ich
jetzt, dass nicht du dir das Leben nehmen sollst, sondern dass ich es
dir nehme. Du sollst sterben und zwar bald. Sehr bald. Jawohl, ich
lasse dich sterben!
© Acta litterarum 2009