Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 9/4
Petronia, eine Dame von satter Selbstzufriedenheit, die unübersehbar aus ihrer Körperfülle hervortrat, klatschte in die Hände. Sogleich kehrte Ruhe ein unter denen, die gekommen waren. Eine illustre Gesellschaft, die an der langen Tafel zu Füßen des Gehäuteten Platz gefunden hatte. Es wurde aufgetragen. Kaum jedoch hatte die Gesellschaft sich kauend und schmatzend zurückgelehnt, als Petronia erneut in die Hände klatschte. Eine fleischbergige Göttin inmitten von Tand. Speckig und glänzend dem Einverleiben ergeben. Sie wies mit rosigem Händchen die Richtung. Alle Blicke folgten.
Die Straße herauf kamen drei Barden. Wort- und bildgewandte Vorsänger der Moderne. Der erste trug einen Bocksbeutel, der zweite hinkte ein Stück hinterdrein in seinem Bemühen, eine riesige Jukebox den Berg hinaufzuschleppen. Der dritte tänzelte neben dem zweiten her. Er war mit einem schwarzen, enganliegenden Trikot bekleidet. Über dem Arm trug er ein hautfarbenes in gleichmäßige Falten gelegtes Stück Stoff, von dessen Enden Stricke herabhingen. Tätiger Surrealismus. Oben angekommen begaben sie sich auf den Aussichtsplatz und nahmen Aufstellung. Links der mit dem Bocksbeutel, rechts die Jukebox. (Sie war so gigantisch, dass die Person hinter ihr verschwand.) Der dritte, der trikotbekleidete Trippeltänzer, entfaltete den Stoff. Die Stricke reckten und streckten sich, hakten ein in unsichtbare Ösen, die den Stoff gleichmäßig auseinanderzogen und schwebend in der Luft hielten. Eine überdimensionale Leinwand. Gewölbt wie ein Segel, das zur Abfahrt rief. Signora Petronia bekam vor lauter Entzücken fettglasige Augen. Wieder klatschte sie in die Hände, stampfte ungeduldig mit den hochhackigen Füßchen und rief: »Beginnen sie meine Herren, beginnen sie!« – Der Tänzer schnippte mit den Fingern und die Leinwand füllte sich mit bläulich flackerndem Licht.
   © Acta litterarum 2009