Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 9/5
La Bleue. Drei alte Weiber betraten die Leinwand und querten sie langsam von rechts nach links. Sie gingen im Gänsemarsch, die hintere hatte jeweils die Arme auf die Schultern der vorderen gelegt. Als die erste an den Rand der Leinwand stieß, blieb sie stehen. Sie sah sich erstaunt um und reichte ihr Auge weiter an die zweite, die es nach einem kurzen Blick der dritten übergab. Die drei besaßen nur ein Auge, mit dem sie sich wechselweise behalfen. Sie kehrten um, blieben in der Mitte der Leinwand stehen und wandten sich dem Publikum zu. Plötzlich verschwamm ihr Bild für einen Moment. Der rechte Barde drehte fieberhaft an der Kurbel seiner Jukebox bis ihn der Versuch einer Müdigkeit überkam. Der linke schwenkte hektisch den Bocksbeutel und dann wurde das Bild wieder scharf und man sah die drei Bethen: Embede, Warbede und Wilbede in ihren gotischen Gewändern. Streng schauten sie aus, mit ihren angeschlagenen Nasen. Dreijungfrauenstein. Der rechte Barde drehte erneut an der Jukebox und die Stimme Apolls ertönte: Ehrfurchtgebietende Jungfrauen gibt es, als Schwestern geboren, die sich ihrer geschwind sie tragenden Flügel erfreuen, drei an der Zahl. Aus der Behausung fliegen sie nunmehr bald hierhin, bald dorthin, naschen vom Honig und leisten ihre prophetischen Pflichten. Wenn sie dahinschwärmen nach dem Genuss des gelblichen Honigs, wollen aus eigenem Antrieb sie die Wahrheit verkünden; meiden sie freilich die süße Speise der Götter, erteilen sie, durcheinander wie wild daherjagend, fälschliche Auskunft. Sie überlasse ich dir, befrage sie offen, und herzlich.
   © Acta litterarum 2009