Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 9/6
Wieder verschwamm das Bild. Petronia schwamm vor Vergnügen in ihrem gepolsterten Armsessel und stieß keckernde Laute aus. Auf der Leinwand erschien Psyche mit ihren beiden Schwestern, Neid und Missgunst. Sie sangen zur Klampfe bis sich über ihnen ein weißer Fleck in Form eines Schlüssellochs ausbreitete, größer und größer wurde. Fellini, als männliches Ungeheuer, fuhr auf einem drachengeflügelten Kamerawagen über ihre Köpfe hinweg. Neid und Missgunst rannten eilends aus dem Bild. Psyche warf ihm Kusshände zu. Inzwischen hatte das Hintergrundblau sich gänzlich zurückgezogen und einem regen Farbwechsel Platz gemacht. Die Leinwand füllte sich. Lauter Dreiergruppen. Die beunruhigenden Musen. Luce und Hélène gesellten sich zu Psyche. Hélène rief: »Psst, seid still, mein Körper spricht. Ich denke mir gerade eine neue Geschichte aus.« Luce entgegnete: »Was ihr hört, sind meine Schamlippen. Sie tuscheln unentwegt miteinander. Huch, wie das kitzelt.« Zu ihren Füßen saß eine schmächtige Gestalt. Der sechzehnjährige Diderot schaute Luce angestrengt unter den Rock und schrieb alles mit. Les bijoux indiscrets. Die Leinwand wimmelte nun von Figuren, die durcheinander redeten. Rechts vorne kauerten drei Kritikerinnen am Boden, die das Wort Bildung auf der Zunge zerknallen ließen, bis es in einer riesigen Hubba-Bubba-Blase gen Himmel schwebte und unentwegt Ballast abwarf. Auf einmal erstarrte das Bild. Von den Seiten schwebten die Schals eines schwarzen Vorhangs zur Mitte, bis auch der letzte Rest des Bildes zugedeckt war. Ein Pausengirl aus der Stummfilmzeit stakste vorüber. Auf der Tafel, die es von Hüfte zu Hüfte schwenkte, stand in weißen Lettern auf schwarzem Grund: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Trauermusik setzte ein. Ein Defilée von Soldaten, die mit schwarzen Lappen umwickelte Stockpuppen vorübertrugen. Bosnierinnen, Kroatinnen, Afghaninnen, Irakerinnen, Tschetscheninnen.
   © Acta litterarum 2009