Anne Corvey: Camera inversa | Hannahs Traum 1/5
Bereichert vor allem dadurch, dass er ›sich bereichert‹ hatte in seinem Empfinden, um Erfahrungen, die er so nun im eigenen Leben nicht mehr zu machen brauchte oder die zu machen er nie die Möglichkeit haben würde. Er hatte etwas gelernt und fühlte sich erfrischt und gestärkt für die Lebensbewältigung. Hinzu kam natürlich noch ein anderes. Sollte ein Leser vielleicht doch – was angesichts der Unwägbarkeiten des Lebens, der möglichen Grausamkeit menschlichen Umgangs, angesichts immer dräuender Katastrophen in Form von Krankheit, Tod, Naturereignissen gar nicht auszuschließen war – solche Erfahrungen machen, so hatten sie den Nachteil, dass sie im Moment des Erlebens und Ausgesetztseins alles andere als kathartisch wirkten. Sie waren schlicht entsetzlich, traumatisierend, bedrängend. Katharsis als spontane Wirkung beim Leser setzte das Nachdenken des Autors voraus, das dem Katastrophischen Sinn oder Läuterungsfähigkeit verleiht. (In gewisser, sagen wir einmal in struktureller Hinsicht hat dieser Vorgang dieselbe Qualität oder Funktion wie ein Sakrament.) Sie setzte die Überwindung der Situation in Form des Überlebens und der Verarbeitung des Erlebten voraus. Ich glaube, dass in New York jeder erleben kann, was er erleben will. Dass so viele Menschen dort fast zu Tode kommen, bedeutet wahrscheinlich weniger, dass New York so gefährlich ist, als dass so viele Menschen den Wunsch haben, wenigstens einmal den Tod zu überleben, was voraussetzt, dass sie zuerst in seine Nähe geraten sein müssen. –
   © Acta litterarum 2009