Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/5
Bereichert
vor allem dadurch, dass er ›sich bereichert‹ hatte in seinem Empfinden,
um Erfahrungen, die er so nun im eigenen Leben nicht mehr zu machen
brauchte oder die zu machen er nie die Möglichkeit haben würde. Er
hatte etwas gelernt und fühlte sich erfrischt und gestärkt für die
Lebensbewältigung. Hinzu kam natürlich noch ein anderes. Sollte ein
Leser vielleicht doch – was angesichts der Unwägbarkeiten des Lebens,
der möglichen Grausamkeit menschlichen Umgangs, angesichts immer
dräuender Katastrophen in Form von Krankheit, Tod, Naturereignissen gar
nicht auszuschließen war – solche Erfahrungen machen, so hatten sie den
Nachteil, dass sie im Moment des Erlebens und Ausgesetztseins alles
andere als kathartisch wirkten. Sie waren schlicht entsetzlich,
traumatisierend, bedrängend. Katharsis als spontane Wirkung beim Leser
setzte das Nachdenken des Autors voraus, das dem Katastrophischen Sinn
oder Läuterungsfähigkeit verleiht. (In gewisser, sagen wir einmal in
struktureller Hinsicht hat dieser Vorgang dieselbe Qualität oder
Funktion wie ein Sakrament.) Sie setzte die Überwindung der Situation
in Form des Überlebens und der Verarbeitung des Erlebten voraus. Ich
glaube, dass in New York jeder erleben kann, was er erleben will. Dass
so viele Menschen dort fast zu Tode kommen, bedeutet wahrscheinlich
weniger, dass New York so gefährlich ist, als dass so viele Menschen
den Wunsch haben, wenigstens einmal den Tod zu überleben, was
voraussetzt, dass sie zuerst in seine Nähe geraten sein müssen. –