Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/6
»Endlich hatte Hannah den Schalter der kleinen Lampe gefunden, die sich am Kopfende des Bettes befand. Ihr matter Schein ließ sie ins Leben zurückkehren. Die Woge, die durch Hannahs Körper floss, fand ihren Ausweg im Mund, ließ ein letztes Aufschluchzen und einen Seufzer der Erleichterung zu einem Impuls und Geräusch verschmelzen. Bei Kindern können wir so etwas beobachten, wenn am Ende eines langen und schmerzlichen Weinens, das einem heftigen Aufruhr Bahn in die Tränen verschafft hat, die vage Möglichkeit einer Beruhigung sich einmengt, hervorgerufen zum Beispiel durch den beschwichtigenden oder klärenden Satz eines Erwachsenen, der langsam und allmählich in das Bewusstsein der Kleinen dringt. Das Entsetzen bahnte sich sogleich neue Bahnen, kam ihr in einem inneren Nachbeben wieder vor Augen, ohne benannt werden zu können. Doch! Das Entsetzen waren die Augen. Einen Moment lang hatte sie den Hass in ihnen flammen sehen. Den Hass, den sie immer gefürchtet hatte, der sich aber nicht dingfest machen ließ. Die Mutter hatte zwei Gesichter. Im Traum hatte der Hass ein Bild gefunden, das die Kraft besaß, sie mit seiner Wirklichkeit zu überwältigen und die Furcht in Gewissheit zu überführen, die Entsetzen hervorrief.« – Jeden Morgen erwachte ich aus meinen letzten Träumen, die mit fortschreitendem Alter einen zunehmend bitteren Geschmack hinterließen. Einst glaubten die Menschen, Träume seien Botschaften der Götter, und später, sie seien Botschaften des sogenannten Unbewussten, dass sich um ein zuträgliches neues Arrangement der Vorkommnisse des Vortags bemüht; doch heute ist es schwer zu glauben, dass Träume Teil eines ökonomischen Systems sind. Stattdessen scheint ein grundlegendes Chaos darin Ausdruck zu finden: Ein zufälliges Zusammenspiel von elektrischen Strömungen bringt Bilder von unerklärlicher Eigenart hervor. Das Judasschaf.
   © Acta litterarum 2009