Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/7
Ein
Wort, das den Blick freigesetzt hatte auf eine in ihr ruhende
Erinnerung, die nicht den Weg zum Wissen fand. Der Traum war
wiedergekehrt in einer der folgenden Nächte. Hatte elektrische Ströme
erzeugt, die sich in diesen Augen kristallisierten, eine träumerische
Wirklichkeit des Empfindens schufen, die im Wachzustand das Nachdenken
in Gang setzte. Sie hätte den Hass in den alltäglichen Augen der Mutter
sehen können, aber es war ihr verwehrt. Nicht nur, weil er sich tarnte
im ›Schafsblick‹, unschuldig, treuherzig, sorgenumwölkt. Sie konnte ihn
nicht sehen, weil sie ihn nicht sehen wollte, was auch immer Wollen in
einem solchen Falle heißen mochte. Es hätte Vernichtung bedeutet, die
Vernichtung der kindlichen Person, die sie gewesen war. Selbst im Traum
war er nicht auf sie gerichtet, war verschoben auf ihren Sohn. Sie
hatte den Sohn, den die Mutter hätte haben sollen, und der durch diesen
Blick zur Unperson wurde. Nun erst war sie in der Lage, klar zu sehen,
im umgebogenen Blick den Hass zu erkennen, der eigentlich ihr galt. Das
war eine Einsicht, die durch das Erzählen nicht einzuholen war.
Andererseits, sie musste gewusst haben. Was heißt Wissen in solchem
Falle? Ahnung? Grundierung des Lebensgefühls? Je nach Heftigkeit
Misstrauen oder leichtes Unwohlsein in allen Erfahrungen und
Verrichtungen? Ein für lange Zeit im Speicher der Erinnerung, die eine
umgebaute war, da sie den Blick verstellte, verborgenes und
festgehaltenes Gemisch, das sich als hochexplosiv erwies. Kein Wunder,
dass sie es gut weggeschlossen hatte.