Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/8
»Hannah
atmete tief durch und richtete sich erneut auf. Sie nahm einen Schluck
Wasser aus der Flasche, die sie rituell jeden Abend neben ihr Bett
stellte. Das prickelnde Nass, das durch ihre Kehle rann, trug seinen
Teil dazu bei, den inneren Aufruhr abzukühlen. Das Entsetzen beruhigte
sich und wurde langsam zu einer nicht länger fühlbaren Größe. Gerann
zur Erinnerung. Der Traum war ein Schlüsselerlebnis, befreiend durch
die Gewissheit, die er erzeugte. An ihrem Leben würde er nichts
ändern.« – Wie sollte er auch. Dem Erzählen allerdings hatte er seine
Grenzen gewiesen. Die wissende Erinnerung würde ebenso uneinholbar
durch erzählende Worte in ihr ruhen wie die unwissende zuvor.Das Licht hatte kein Loch in den Tag gebrannt. Auf
diese Weise dient das Experiment des Gedächtnis-Depots nicht
irgendeinem Glück des Wiedererlebens, sondern der Rettung des
Unverstandenen, die das Staunen über die abgelaufene Zeit lebendig hält.
Der Tag bestand aus einer Ansammlung von Lichtpunkten, die sich wie die
Farbpunkte der Impressionisten zu einem Bild zusammensetzten. Eingeätzt
in die Leinwand der vergegenwärtigenden Erinnerung. Lauter Punkte, die
sich so oder auch ganz anders hätten zusammenfinden können, o Agota,
lauter Punkte, zwischen denen Raum war, der den Blick freigab, auf
etwas, was dahinter lag. Oder doch eher dazwischen?