Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/8
»Hannah atmete tief durch und richtete sich erneut auf. Sie nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche, die sie rituell jeden Abend neben ihr Bett stellte. Das prickelnde Nass, das durch ihre Kehle rann, trug seinen Teil dazu bei, den inneren Aufruhr abzukühlen. Das Entsetzen beruhigte sich und wurde langsam zu einer nicht länger fühlbaren Größe. Gerann zur Erinnerung. Der Traum war ein Schlüsselerlebnis, befreiend durch die Gewissheit, die er erzeugte. An ihrem Leben würde er nichts ändern.« – Wie sollte er auch. Dem Erzählen allerdings hatte er seine Grenzen gewiesen. Die wissende Erinnerung würde ebenso uneinholbar durch erzählende Worte in ihr ruhen wie die unwissende zuvor.Das Licht hatte kein Loch in den Tag gebrannt. Auf diese Weise dient das Experiment des Gedächtnis-Depots nicht irgendeinem Glück des Wiedererlebens, sondern der Rettung des Unverstandenen, die das Staunen über die abgelaufene Zeit lebendig hält. Der Tag bestand aus einer Ansammlung von Lichtpunkten, die sich wie die Farbpunkte der Impressionisten zu einem Bild zusammensetzten. Eingeätzt in die Leinwand der vergegenwärtigenden Erinnerung. Lauter Punkte, die sich so oder auch ganz anders hätten zusammenfinden können, o Agota, lauter Punkte, zwischen denen Raum war, der den Blick freigab, auf etwas, was dahinter lag. Oder doch eher dazwischen?
   © Acta litterarum 2009