Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/9
Literatur
wurzelt in einem Glaubensakt, nämlich in der Unterstellung, dass allem
menschlichen Tun eine Bedeutung innewohnt, die das tägliche Leben zu
einem Stoff macht, den zu dramatisieren oder analysierend zu
beschreiben sich lohnt. Es gibt sogar eine schattenhafte kosmische
Mutmaßung, nach der das Universum – die Gesamtheit dessen, was
existiert, einschließlich unserer subjektiven Eindrücke und der
objektiven Daten – eine Erzählung darstellt und ein Gedicht enthält, zu
dem unsere eigenen Geschichten und Gedichte ein Echo bilden. – Das
wichtigste Pfund eines Schriftstellers ist nicht seine Weisheit oder
sein Können, sondern ein irrationales, oft frohgemutes Gefühl, das dem
Wenigen, dass er kennt, eine Bedeutung anhaftet, und das ist eine
religiöse Empfindung. In diesem Sinne. Auch Negation ist
Sinngebung. Das Erzählen des Befremdlichen, des Kleinen im Alltäglichen
lädt es mit Sinn auf. Es ist dann dasselbe nicht mehr. Erzählen sammelt
das Verstreute ein, zieht es hinter sich her. Die Dinge stehen
plötzlich nebeneinander, ganz gleich, ob sie lebensweltlich betrachtet
dorthin gehören oder nicht. Das Erzählen selbst fädelt ein: Wörter,
Sätze. Die Perlenkette. War der Griff in die Tasten das Spiel der
Interpretation? Die Klavierspielerin.
Dieser Griff erzeugte Töne, die ans Herz rührten, dich die
Unendlichkeit oder die Sterblichkeit spüren ließen. Dieser Griff in die
Tasten war freie Variation. Thema und Variation des Anfangs: Das Schaf,
das Judasschaf gibt den Blick frei auf den Drachen, den feuerspeienden,
der auf den Erinnerungen hockt wie auf dem güldenen Schatz. Er will sie
dir vorenthalten. Aber, meint er dich überhaupt? Der Drache sitzt nicht
auf einem Berg am Ende der Welt oder an irgend einem anderen fernen
Ort. Der Drache sitzt im Blick des Schafs. Das Judasschaf. Der schielende Blick. Er sieht den Drachen und zielt auf den güldenen Schatz.