Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/10
Der
Schatz ist die Erinnerung, die sich erzählen lässt. So wird sie
eingeholt und dem Betrieb zugeführt. Eine ebenso lästerlicher wie
notwendiger Vorgang. Soviel ist
sicher, hat er gesagt, vergessen Sie das niemals. Was durch uns in die
Welt gebracht ist, kann nie mehr aus ihr hinausgedrängt werden.
Wer oder was aber bestimmt, wie es bleibt? Was ist mit dem Vergessen?
Das Erinnern ist das Spiel mit dem Vergessen. Seine Überwindung und
seine Vollendung. Was ist das Gedächtnis? Eine Kapelle, ein Museum, ein
Archiv? Welcher Ordnung unterliegt es? Einer kollektiven, einer
persönlichen? – »Hannah schaute aus dem Fenster, das sich rechts über
ihrem Bett befand. Ganz langsam wich die Dunkelheit dem heraufziehenden
Tag. Wie lange mochte sie so im Dämmerzustand verharrt haben, dem
verstörend befreienden Traum nachhängend. Sie war sich sicher. So
schnell würde sie ihn nicht vergessen können. Er schoss zusammen in
einen Punkt: den Blick aus den hasserfüllten Augen.« – Hesiod
stellt in seiner »Theogonie« zum ersten Mal der Gedächtnis-Göttin
Mnemosyne (lat. Memoria), die dem lichten Tag und dem Sonnengott Apoll
nahesteht, die dunkle, der Nacht verwandte Vergessensgöttin Lethe
gegenüber. Beide Göttinnen haben ihre Rechte und ihre eigenen Reiche,
beiden können die Sterblichen ihr Opfer darbringen, je nachdem, ob sie
sich eher vom Erinnern oder vom Vergessen machtvolle Hilfe versprechen.
Vom Vergessen ist Heil und Heilung vor allem dann erwünscht, wenn Leid
und Schmerzen einen Sterblichen bedrängen. Denn sein Unglück vergessen
zu können, ist schon die Hälfte des Glücks. So wissen es in der Poesie
vor allem die Tragiker (besonders Euripides) und die Dichter der Liebe
(besonders Alkaios). Dabei können nun auch wieder pharmaka hilfreich
sein. An ihnen zeigt sich aufs neue die Ambivalenz der menschlichen
Seelenkräfte zwischen Erinnern und Vergessen. Die Dinge sehen so gleich aus.