Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/11
Die Befreiung und das Entsetzen paaren sich in ein und demselben Bild. Ein Vexierbild. Je nachdem, wie du es anschaust, springt dich mal die eine mal die andere Empfindung an. Das große Heft. Der Beweis. Die dritte Lüge. Je nachdem, wie die Lichtpunkte zusammengefügt werden, ergibt sich eine andere Geschichte, o Agota, welche aber ist wahr. Alle drei? Keine? Macht es einen Unterschied, ob der Verstörte, Verfolgte, Vernichtete selber spricht oder ein anderer für oder von ihm? Das Vergessen kann Erlösung, kann Befreiung sein. Das Erinnern eine Qual. Die Fortsetzung der Folter. Das Vergessen kann das Verbrechen sein. Die Fortsetzung der Auslöschung, der Vernichtung, des Mordens. Was macht den Unterschied? Gibt es Kriterien? – »Hannah spürte den Blick der Mutter. Den Kinderblick. Der Blick, den die Mutter aufs Kind richtet. Sie lächelte. Hinter diesem Lächeln aber lauerte etwas. Ein Etwas, das Hannah nicht identifizieren konnte. Es richtete sich gegen ihre Person, bedrohte sie. Aber galt es ihr überhaupt? Aus welchen Quellen speiste es sich. Das Lächeln verzerrte sich, gerann zur Fratze.«
   © Acta litterarum 2009